Eurostat-Skandal trotz Warnungen ignoriert

Einige EU-Abgeordnete fordern den Rücktritt von Währungskommissar Solbes, dem Dienstherrn der Statistikbehörde Eurostat. Prodi nimmt seinen Kollegen in Schutz: Die Betrügereien konzentrierten sich auf die Zeit vor Solbes

STRASSBURG afp ■ Nach der Veröffentlichung belastender Untersuchungsberichte über die Finanzaffäre beim Statistikamt der Europäischen Union, Eurostat, hat sich EU-Kommissionspräsident Romano Prodi gestern vor dem Europaparlament um eine Entkräftung der Vorwürfe bemüht. Dort wurde der Ruf nach politischen und personellen Konsequenzen lauter. Prodi müsse nun umgehend offen legen, wieso es keine „effiziente Kontrolle“ über das Statistikamt gegeben habe, betonte die Vorsitzende des Haushaltskontrollausschusses, Diemut Theato (CDU). Mindestens 5 Millionen Euro wurden bei Eurostat nach Erkenntnissen der Ermittler veruntreut. Trotzdem nahm Prodi seine Kollegen in Schutz: „Es gibt keinen Grund, dass irgendein Kommissar zurücktritt.“

Mehrere Mitglieder des Haushaltskontrollausschusses forderten den Rücktritt von Währungskommissar Pedro Solbes, dem Dienstherrn von Eurostat. Die Untersuchungen hätten alle „bangen Erwartungen“ übertroffen, sagte der Däne Freddy Blak. Die EU sei nach dem Bekanntwerden von schwarzen Kassen, Scheinverträgen und nicht vorschriftsmäßigen Ausschreibungen bei Eurostat erneut mit einem „riesigen Finanzskandal“ konfrontiert.

Blak zufolge geht aus dem Bericht des EU-Amtes zur Betrugsbekämpfung (Olaf) hervor, dass es bei Eurostat noch bis Juli dieses Jahres schwarze Kassen und doppelte Buchführung gab. Auch sei deutlich geworden, dass das Büro von Solbes schon seit längerem Hinweise auf Unregelmäßigkeiten bei dem Statistikamt erhielt. Auch die CSU-Abgeordnete Gabriele Stauner betonte, sie könne sich nicht vorstellen, dass Solbes nichts von den Vorgängen bei Eurostat wusste.

Der Chef der Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP), Hans-Gert Pöttering, verwies auf eine interne Finanzkontrolle, die die Betrugsbekämpfer bereits im April 2000 auf Unregelmäßigkeiten hingewiesen habe. „Wieso haben die drei betroffenen Kommissare davon nichts gewusst?“ Direkt von der Affäre betroffen sind neben Solbes auch die deutsche Haushaltskommissarin Michaele Schreyer (Grüne) und der mit der Reform der EU-Kommission beauftragte britische Kommissar Neill Kinnock.

Romano Prodi betonte gestern dagegen, dass sich die Betrügereien auf die Zeit vor Solbes’ Amtszeit konzentrierten. Auch der CDU-Politiker Pöttering lehnte Rücktrittsforderungen „zum jetzigen Zeitpunkt“ ab. Es habe das „ganze System versagt“, nicht einzelne Kommissare.

Die vorläufigen Untersuchungsberichte waren am Vorabend den Mitgliedern des Haushaltskontrollausschusses vorgelegt worden. Diese mussten sich per Ehrenerklärung verpflichten, keine Einzelheiten preiszugeben. Veröffentlicht wurden lediglich Zusammenfassungen. Belastet wird vor allem der mittlerweile versetzte ehemalige Eurostat-Generaldirektor Yves Franchet. Der Franzose war auch an zwei Unternehmen – dem Dienstleister Eurocost und der Luxemburger Privatfirma CESD – beteiligt, mit denen Eurostat zum Teil stark überhöhte Verträge abschloss. Allein die Aufträge an CESD beliefen sich demnach von 1996 bis 2000 auf 31,6 Millionen Euro. Davon seien über 4 Millionen verschwunden.

Wie viel Geld insgesamt in dunklen Kanälen versickert ist, ist nach Auskunft Theatos nicht geklärt. „Wir wissen noch nicht, um welche Größenordnung es geht“, betonte die CDU-Politikerin. Stauner sprach von vermutlich „mehr als 8 Millionen Euro“. Nach Ansicht der CSU-Politikerin ist nicht auszuschließen, dass sich Spitzenbeamte persönlich bereichert haben. Franchet hatte dies stets verneint und die Existenz schwarzer Kassen damit begründet, rasch Mittel für Aufträge zur Verfügung zu haben. Eurostat ermittelte unter anderem die Daten über die Einhaltung des Stabilitätspaktes.