Risikogruppe: 100 Millionen Frauen

Eine Studie nach der anderen belegt: Die Hormonersatztherapie erhöht das Brustkrebsrisiko und macht auch sonst nichts besser

BERLIN taz ■ Im Sommer 2002 geriet die Fachwelt erstmals ernsthaft in Unruhe: Die „Women’s Health Initiative“ (WHI) musste abgebrochen werden. Die Langzeitstudie an 30.000 Frauen in den USA sollte die Auswirkungen von Hormonersatztherapien in den Wechseljahren erforschen. Nach 6 Jahren war klar: Bei den Frauen, die Östrogen-Gestagen-Präparate schluckten, war das Brustkrebsrisiko um 26 Prozent gewachsen. Eine Fortführung der Studie wäre mutwillige Gefährdung gewesen.

Schon vorher hatten kleinere Studien in den USA und Europa Zweifel an den Hormontherapien geweckt – immer wieder aber ließen sich deren Ergebnisse entkräften: Die Gruppe der Probandinnen sei zu klein, zu alt, werde einfach bloß besser untersucht und so weiter. Mit vergleichbaren Vorbehalten griffen die Pharmaunternehmen und ihnen zuarbeitende Wissenschaftler auch die WHI-Verantwortlichen an. In Deutschland hieß es, dass hier die Präparate ja viel niedriger dosiert seien, und man wolle doch die Frauen nicht verunsichern, die schon so lange mit den Extrahormonen gefüttert werden.

Doch die Hormonbombe platzte, als eine Auswertung der „Million Women Study“ in Großbritannien – der größten je durchgeführten medizinischen Studie an Frauen – in diesem Sommer ergab: Die Einnahme von Hormonpräparaten, die auch in Deutschland geschluckt werden, verursacht über einen Zeitraum von 10 Jahren 19 zusätzliche Brustkrebsfälle je 1.000 Frauen. Die Autorinnen der im August in der Fachzeitschrift Lancet veröffentlichten Studie schätzten, dass in 10 Jahren etwa 20.000 Frauen in Großbritannien wegen der Einnahme von Wechseljahrshormonen Krebs bekamen und dass sie auch schneller daran starben.

Als gesichert gilt demnach: Die weltweit geschätzten 100 Millionen Frauen, die Hormonpräparate nehmen, riskieren umso ernsthafter ihre Gesundheit, je länger sie die Pillen schlucken. In Deutschland nehmen 15 Prozent der 45- bis 50-Jährigen, 40 Prozent der 51- bis 55-Jährigen und 55 Prozent der 56- bis 60-Jährigen Hormone, im Schnitt tun sie dies doppelt so lange wie britische Frauen. Der Bremer Präventionsforscher Eberhard Greiner hat die britischen Ergebnisse auf die deutsche weibliche Bevölkerung hochgerechnet. Er kommt zu dem Ergebnis, dass hier in 10 Jahren „infolge der Anwendung von Wechseljahrshormonen zirka 127.000 Frauen im Alter zwischen 45 und 74 an Krebs“ erkrankt sind.

Für das Ausmaß dieses historisch schwer zu übertreffenden Medizinskandals fehlen den Fachleuten noch die Worte. Der Vorsitzende der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft, Bruno Müller-Oerlinghausen, verglich die Hormonvergabe diese Woche mit dem Contergan-Skandal. Wann die deutschen Gynäkologen dies anerkennen, ist allerdings durchaus offen: In der aktuellen Ausgabe ihrer Fachzeitschrift Der Frauenarzt empfiehlt ein Dr. Dr. Alfred O. Mueck: „Patientenaufklärung: Es sollte erläutert werden, dass Hormone keinen Brustkrebs verursachen.“ ULRIKE WINKELMANN