Ein faules Ei darf nicht den Brei verderben

Erstmals hat sich gestern ein Gericht im Hauptsacheverfahren mit den Klagen von Gegnern der Castor-Transporte gegen das großflächige Versammlungsverbot befasst. Die Bezirksregierung geriet während der Verhandlung zunächst in die Defensive

VON JÜRGEN VOGES

Darf der Staat tatsächlich alljährlich eine gute Woche lang jedermann jedwede Demonstration auf einem immerhin gut 700 Hektar großen Gebiet untersagen? Mit dieser Frage, die sich bei jedem Castor-Transport in das Gorlebener Zwischenlager stellt, hatte sich gestern das Verwaltungsgericht Lüneburg erstmals gründlich zu befassen. Das Gericht verhandelte in einem Hauptsacheverfahren über eine Klage der Bürgerinitiative Lüchow-Dannenberg (BI) und der Aktion „X-tausendmal quer“ gegen die Demonstrationsverbote, die 2001, 2002 und 2003 in einem 100 Meter breiten Korridor auf der Castor-Strecke zwischen Lüneburg und Gorleben verhängt wurden. Die Atomkraftgegner wollen die Verbote für rechtswidrig erklärt sehen. Gegen die „Allgemeinverfügungen“, mit denen die Bezirksregierung Lüneburg ihre großräumigen Versammlungsverbote erlässt, hatten die wendländischen Atomkraftgegner bislang zwar zahlreiche einstweilige Anordnungen beantragt – allerdings mit wenig Erfolg. In den Eilverfahren, so betonte die BI-Anwältin Ulrike Donat zum Auftakt des Prozesses – konnte man jedoch die den Verboten zugrunde liegende polizeiliche Gefahrenprognose nicht durch Beweisanträge auf den Prüfstand stellen. Die Behauptungen der Polizei über gewalttätige Demonstranten und drohende Krawalle wurden in den Eilverfahren von den Gerichten nur summarisch auf ihre Plausibilität geprüft.

In dem Hauptsacheverfahren vor der 3. Kammer des Lüneburger Verwaltungsgerichts lag nun allerdings „die Darlegungs- und Beweislast bei der Behörde“, wie es auch der Vorsitzende Wolfgang Siebert sagte. Der Kammervorsitzende stellte auf Antrag von Rechtsanwältin Donat auch eingangs der Verhandlung klar, dass er die Klage der Atomkraftgegner zumindest für zulässig hält. Auch künftig sei eine Wiederholung der Versammlungsverbote zu befürchten. Nach Auffassung von Anwältin Donat widerspricht das langdauernde und großflächige Demonstrationsverbot, das sich gegen eine unbestimmte Vielzahl verschiedenster Versammlungen richtet, dem Artikel 8 des Grundgesetzes und seiner Interpretation durch das Bundesverfassungsgericht. Behördliche Versammlungsverbote seien nur im Einzelfall zulässig. Im Wendland werde jedoch regelmäßig eine Art Bannmeile errichtet, ohne die dafür notwendige gesetzliche Grundlage. Die den Verboten zugrunde liegende Gefahrenprognose wirft in den Augen der Anwältin alle Atomkraftgegner in einen Topf. Vor allem unterscheide sie nicht zwischen verbotenen, aber gewaltfreien Protestformen und regelrechten Gewalttaten.

Der Kammervorsitzende Siebert sah in diesem Punkt das Grundproblem des Rechtsstreits. „Ein paar Autonome“ würden in den Allgemeinverfügungen „als Totschlagargument genommen, um auch den friedlichen Protest zu unterbinden“. Auch die Größenverhältnisse zwischen friedlichen Demonstranten und einzelnen Gewalttätern würden in den Verbotsverfügungen nicht betrachtet. Man verfahre stattdessen nach dem Grundsatz: „Ein faules Ei verdirbt den Brei.“ Selbst die Prozessvertreterin der Bezirksregierung, Christiane Röttgers, hielt speziell der Bürgerinitiative zugute, dass sie sich stets um Deeskalation bemühe, allerdings habe sie die Demonstranten nicht immer unter Kontrolle. Ein Urteil wurde gestern erst am Abend erwartet.