Feind verzweifelt gesucht

Heribert Oberthür hatte in seinem ganzen Leben keinen einzigen Feind. Er litt darunter, aber er fand seine Mitmenschen einfach zu nett, als dass er jemanden fand, den er wirklich hassen konnte. Eigentlich war Heribert Oberthür zufrieden. Er hatte viele Freunde, eine schöne Zweiraumwohnung, einen Kanarienvogel und einen interessanten Job. Nur ein Feind fehlte ihm noch. Dann wäre das Glück perfekt gewesen.

Es ist nicht so, dass sich Heribert Oberthür nicht angestrengt hätte, jemanden zu finden, mit dem er in offener Feindschaft hätte leben können. Schon als Kind zog er seine kleine Schwester Amelie an den Haaren, er bemalte ihre Lieblingspuppe mit schwarzem Filzstift, und als sie sich zum ersten Mal heimlich verliebte, verriet er das dem Angebeteten, obwohl er ihr geschworen hatte zu schweigen. Alles ging gut aus. Amelie schnitt sich das lange Haar und gefiel sich ohne Zöpfe viel besser, sie liebte das neue Aussehen ihrer schwarzen Puppe, und der Verehrte gestand ihr, ermutigt von Heriberts Andeutungen, ebenfalls seine Liebe.

Aber Heribert gab nicht auf. Er wechselte häufig seine Arbeitsstelle, um endlich einen Feind zu finden. Vorgesetzte, so sagten ihm seine Freunde, könnten ganz entsetzlich sein. Da finde sich ein Feind, ohne dass sich Heribert groß anstrengen müsse, versicherten sie ihm. Heribert Oberthür war dankbar für den Rat seiner Freunde und kündigte in der Firma mit dem netten Betriebsklima. Aber auch an seiner nächsten Arbeitsstelle geriet er an einen netten Vorgesetzten. Da war kein einziger Mitarbeiter, den er nicht ausstehen konnte. Da gab es keinen Kollegen, der neidisch auf sein hohes Gehalt war und ihm den Arbeitstag zur Hölle werden ließ. Alles war harmonisch. Heribert Oberthür fand viele neue Freunde, aber keinen einzigen Feind.

Auch eine Frau hat sich Heribert Oberthür irgendwann gesucht. Eine Schwiegermutter, so hatte er des Öfteren gehört, eigne sich geradezu ideal als Feindin. Heribert Oberthür heiratete eine Frau und nahm sich vor, all die Fehler zu machen, die man tunlichst vermeidet, will man ein gutes Verhältnis zur Mutter der Angetrauten pflegen. Aber Heribert Oberthür wollte endlich einen Feind haben. Also vergaß er vor seinem ersten Besuch absichtlich, sich zu rasieren. Er zog seinen ältesten Pullover an und nahm sich vor, beim Essen zu rülpsen und von seinen Plänen als Bildhauer zu erzählen. Wenn er nur recht unseriös wirkte, dann würde seine Schwiegermutter ihn hassen, hoffte Heribert Oberthür. Aber seine Schwiegermutter war begeistert über so viel Unkonventionalität. Sie beglückwünschte ihre Tochter zu einem solch großartigen Mann und küsste Heribert Oberthür zum Abschied auf die Stirn. Heribert war gerührt, aber auch ein wenig traurig. Schon wieder hatte er keinen Feind gefunden. Dabei kann man nicht sagen, dass er sich nicht bemüht hätte.

Heribert beschloss schließlich, sich einfach einen anonymen Feind in der U-Bahn auszugucken. Den Mann, den er jeden Morgen auf dem Weg zur Arbeit sah, mit dem er nie ein Wort gesprochen hatte, der aber vor zwei Wochen ein wenig griesgrämig dreingeblickt hatte. Er würde sich gut als anonymer Feind eignen, dachte Heribert Oberthür und nahm sich vor, den Mann in der U-Bahn in Zukunft auch griesgrämig anzusehen. Wenn er ihn nicht näher kennen lernte, könnte es klappen, dachte Heribert Oberthür. Als er am nächsten Morgen die U-Bahn betrat, lächelte ihn der fremde Mann, der eigentlich sein anonymer Feind hätte werden sollen, freundlich an. An diesem Tag ist Heribert Oberthür verzweifelt. CLAUDIA LEHNEN