„Putin hat keine Verhandlungspartner in Tschetschenien“, sagt Erhard Stölting

Die einzige echte Lösung des Konflikts wäre der Rückzug der russischen Truppen. Doch der ist unwahrscheinlich

taz: Kann man jetzt, nach mehreren Terroraktionen innerhalb einer Woche, sagen, dass Putins Politik in Tschetschenien endgültig gescheitert ist?

Erhard Stölting: Putins Tschetschenienpolitik ist seit langem gescheitert. Er hat die Spirale der Gewalt bedient. Stattdessen hätte er zwischen den Unabhängigkeitskämpfern und der Bevölkerung differenzieren müssen. Ein Guerilla-Konflikt ohne die Solidarität der Bevölkerung ist schwierig. Moskau aber hat den typischen Guerilla-Mechanismus in Gang gesetzt. Zynisch gesagt funktioniert der so: das Gros der Bevölkerung möglichst stark Repressionen auszusetzen, weil sie sich dann mit der Guerilla-Seite identifiziert und solidarisiert. Dann reagiert die Okkupationsmacht mit noch stärkeren Repressionen. Das ist günstig für die Terroristen.

Was ist die Triebfeder von Putins Tschetschenienpolitik?

Am Anfang von Putins Karriere war die Tschetschenienpolitik ein Machtinstrument. Es ging darum, Wahlerfolge zu erzielen, und das hat ja auch funktioniert. Zudem gibt es in Russland heftige nationalistische Stimmungen, die bis hin zum Rassismus gehen, und das wird von den Kreisen, die ins Militär hineinreichen, auch unterstützt. Auch die gilt es zu bedienen. Eine weitere Triebfeder ist, dass der Krieg in Tschetschenien für das Militär eine Rechtfertigung seiner Existenz und ein Machtgewinn ist. Das gilt ganz abgesehen davon, dass es dort auch viele Leute gibt, die mit diesem Krieg große Geschäfte machen.

Wie wirkt sich der Krieg in Tschetschenien auf die anderen Staaten in der Region aus?

Hier muss man zunächst einmal von Tschetschenien ausgehen. Die dortige Gesellschaft ist in ihren alten Strukturen zerstört worden, genauso wie die Gesellschaften in anderen Kriegsregionen wie Irak oder Afghanistan. Bewaffnete Gruppen haben heute ein viel größeres Gewicht als traditionelle Klanstrukturen. Auch die Religion spielt eine neue Rolle: Früher herrschte in Tschetschenien ein Islam, der sehr stark von der Sufi-Mystik beeinflusst war. Heute hat sich dort, ausgehend von Saudi-Arabien, eine fundamentalistische, antitraditionalistische Tendenz durchgesetzt. Das ist auch an der Tatsache erkennbar, dass Frauen als Selbstmordattentäterinnen vorgeschickt werden. Der fundamentalistische Islam kann perspektivisch auch anderswo Anhänger gewinnen. In Dagestan etwa ist eine Entwicklung in diese Richtung bereits zu beobachten.

Immer häufiger stellt die russische Regierung einen direkten Zusammenhang zwischen al-Qaida und den tschetschenischen Kämpfern her. Besteht dieser Zusammenhang?

Ursprünglich hatten die Tschetschenen einen antikolonialistischen Kampf geführt, der mit globalem Terror nichts zu tun hatte. Mittlerweile aber berufen sie sich selbst auf diesen Zusammenhang. Ich kann mir schon vorstellen, dass dieser Zusammenhang langsam wächst. Denn nicht nur die Russen versuchen da eine Brücke herzustellen, um ihr Vorgehen zu legitimieren, sondern auch die Amerikaner. Das treibt die tschetschenischen Kämpfer auf die Seite von al-Qaida.

Welche Rolle spielen die russischen Sicherheitskräfte?

Noch im ersten Tschetschenienkrieg war die Armee vor allem desorientiert. Jetzt weiß man, trotz Nachrichtensperre, dass die Sicherheitskräfte weitgehend von der Leine gelassen sind. Sie haben die Probleme, die heute existieren, erst geschaffen. Die schwarzen Witwen sind tatsächlich Opfer, die ihren sozialen Rückhalt verloren haben, indem ihre Verwandten getötet wurden. Die Sicherheitskräfte in den Griff zu bekommen ist nicht nur schwierig, sondern offenbar auch unerwünscht: Mit einer Ausnahme sind alle Prozesse wegen Mord oder Vergewaltigung ins Leere gelaufen.

Einerseits predigt Putin die Normalisierung in Tschetschenien, andererseits häufen sich Attentate. Gerät der Präsident gegenüber der russischen Bevölkerung in Erklärungsnot?

Putin fährt eine Doppelstrategie: auf der einen Seite prowestlich, vor allem durch die Wirtschaftspolitik, die den Milieus, die ihn unterstützen, zuwider ist. Gleichzeitig hat er durch seine Tschetschenienpolitik und die Propagierung der Wiederherstellung Russlands als militärische Großmacht bislang diese Milieus immer wieder einbinden können. Wenn er jetzt in Tschetschenien eine Kehrtwende vollzieht, verliert er deren Unterstützung und damit einen entscheidenden Rückhalt. Auch ein Diktator, der fast die gesamte Opposition mundtot gemacht hat, braucht Unterstützung.

Wie sehen mögliche Perspektiven aus?

In einem traditionellen Guerillakrieg gib es Strukturen, die eine Führung haben, mit der man verhandeln kann. Im tschetschenischen Fall existiert diese Führung nicht, man weiß also gar nicht, mit wem man es zu tun hat. Das heißt, die Russen waren zumindest darin sehr erfolgreich, die Strukturen aller potenzieller Verhandlungspartner zu zerstören. Was Präsident Putins Kurs angeht, so wird sich der kaum ändern. Es könnte, wie in den USA, zu einer Verschärfung von inneren Kontrollen kommen, um die Bevölkerung zu beruhigen. Die einzige echte Lösung wäre ein Rückzug der russischen Truppen aus Tschetschenien. Doch diese Möglichkeit sehe ich derzeit nicht.

INTERVIEW: BARBARA OERTEL