„Berlin war eine andere Welt“

Gerhard Schmid

„99,99 Prozent der Unterrichtstätigkeit werden überhaupt nicht kontrolliert. Kaum ein Schulleiter – zumindest im Westteil der Stadt – besucht seine Lehrer im Unterricht“„Als ich in Berlin anfing, hat mein damaliger Schulleiter gesagt: ‚Die letzten Preußen in Berlin sind die Bayern.‘ Wegen der Sekundärtugenden“

Früher war Gerhard Schmid vor allem dagegen: Vietnamkrieg, Atomwaffen, Notstandsgesetze. Als APO-Aktivist warf der so genannte „Dutschke von Augsburg“ in Bayern solange Flugblätter, bis er als Lehrer 1972 Berufsverbot erhielt. Schmid ging nach Berlin, wo er sich zunächst in der GEW engagierte. Heute ist der 58-Jährige Oberschulrat von Friedrichshain-Kreuzberg, Vorgesetzter von gut 2.500 Lehrern und CSU-Mitglied. Bildungspolitisch engagiert sich Schmid als neuer Vorsitzender des „Forums Schulpolitik und berufliche Bildung“ der Berliner CDU

Interview SUSANNE LANG

taz: Wissen Sie noch, was auf den Flugblättern stand, die Sie damals in Bayern verteilt haben?

Gerhard Schmid: Wir haben zum Beispiel den Weg von Dubček für einen freiheitlichen Kommunismus als Alternative bezeichnet, weil wir gegen den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in Prag waren. Es ging uns um Pazifismus und demokratische Werte. Damals musste man Flugblätter ja noch 48 Stunden vorher der Polizei vorlegen und angeben, wo man sie verteilen will. Heute kann man sich das gar nicht mehr vorstellen.

Wie sind Sie dabei zu dem Ruf „Dutschke von Augsburg“ gekommen?

Offensichtlich braucht man immer bestimmte Symbolfiguren. Eigentlich wurde die Bezeichnung erst von der Presse aufgegriffen, als man über mein damaliges Berufsverbot schrieb. Als bekannt wurde, dass ich in die CSU eingetreten bin und dort Funktionen übernommen habe, ist es reaktiviert worden.

In Bayern reicht es also, Flugblätter zu verteilen, um in eine Reihe mit Dutschke gestellt zu werden?

Das hängt damit zusammen, dass ich hauptsächlich Organisator war. Die Ostermärsche der Atomwaffengegner hatte ich schon in den 60ern organisiert und wurde so zur Symbolfigur der Antiatomwaffenbewegung. Die Zuschreibung stimmt aber nicht ganz. Das Gewaltmonopol des Staates, das Dutschke in Frage gestellt hat, haben wir nie angetastet.

Wie sehr hat Sie das Berufsverbot getroffen, wenn Sie bereits beim Vorzeigen von Flugblättern Ihre Grundrechte verletzt sahen?

Vor allem haben mich die Vorwürfe getroffen, weil ich diese Positionen zu dem Zeitpunkt schon gar nicht mehr vertrat. Zudem waren sie zum Teil sehr einfach gestrickt. In etwa so: Weil der Dubček-Kommunismus, so liberal er sein möge, nicht auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung stehe, täte ich es auch nicht. Logischerweise könnte ich auch nicht Lehrer werden. Dieses Niveau der Auseinandersetzung hat mich sehr aufgeregt. Zusätzlich ist es mir schwer gefallen, in ein anderes Bundesland zu gehen, weil ich damals wie heute sehr stark mit meiner Heimat Bayern verbunden bin.

Weshalb gingen Sie ausgerechnet nach Berlin?

Ich hatte ein Angebot bekommen. Es fiel mir aber wirklich sehr schwer. Berlin war eine völlig andere Welt.

Wieso sind Sie dann geblieben?

Ganz einfach: Jetzt bin ich zu alt, um als Lehrer zu wechseln. Das geht nur bis 45. Außerdem habe ich hier Funktionen übernommen, in denen man einiges gestalten kann.

War Berlin gar nicht spannend? Sie hätten hier als APO-Mann ja richtig aufdrehen können.

Im Gegenteil. Ich hatte mich ja schon ab 1970 stark von diesen Positionen abgesetzt. Insgesamt dauerte der Veränderungsprozess von einem Aktiven in der APO zu einem Mitglied der CSU gut 30 Jahre. Endgültiger Wendepunkt war meine Chinareise 1979. Als ich dort die Zerstörung durch die Kulturrevolution gesehen habe, schminkte ich mir alle meine Jugendflausen von Sozialismus ab.

Ihr gewerkschaftliches Engagement war eine Zwischenphase in diesem Prozess?

In gewisser Weise ja. Aber ich habe auch bei der GEW in Berlin von Anfang an Gegenpositionen zu bestimmten Auffassungen vertreten. Zum Beispiel bezüglich der Hausbesetzerszene. Bei aller Berechtigung von Kritik, die sich darin ausdrückte, wenn man an die Sanierungsüberlegungen in Kreuzberg denkt – für mich stellte die Bewegung das Gewaltmonopol des Staates in Frage.

Steckt doch ein bayerischer Anarchist in Ihnen, der einfach gerne dagegen ist?

Es ist schon richtig, dass man in Bayern mal ganz gerne die Sau rauslässt, dass es einen gewissen anarchistischen Zug gibt. Aber da ich meine Positionen ja bereits in Bayern überdachte, kann man nicht behaupten, dass es mein Wesenszug wäre, dort jene und hier diese Opposition zu machen.

Gibt es etwas, was Sie im damaligen West-Berlin auch schätzen gelernt haben?

Die kulturelle Vielfalt. Berlin war ja auch damals schon eine spannende Stadt. Ansonsten gibt es nicht so viel, muss ich gestehen.

Was gefällt Ihnen nicht?

Die Kehrseite dieser Vielfalt: Beliebigkeit. Wenn die Grundsätze, nach denen man Entscheidungen trifft, beliebig sind. In Bayern machen Sie Politik vor dem Hintergrund bestimmter christlicher Grundpositionen. Solche Diskussionen gibt es in Berlin nicht: Vor welchem Menschenbild mache ich Politik?

Mal ehrlich: Sehr oft spürt man das „C“ bei der CSU auch nicht.

Das kommt darauf an, was man unter dem „C“ versteht. Bezüglich der sozialen Frage findet bei der CSU zum Beispiel eine starke Diskussion statt. Ich bin selbst auch kein Mitglied der Kirche, sehe mich aber in einer christlich-abendländischen Kulturtradition.

Als Schulrat in einem Ostbezirk gefragt: War das Schulsystem der DDR sozialer und somit besser?

Besser war mit Sicherheit ein Aspekt, der im Zuge der Pisa-Studie heute an den Lehrern kritisiert wird: dass sie sich um den einzelnen Schüler kümmerten. Ich habe aber meine Bedenken, ob dieses individuelle Bemühen nicht sozialen und politischen Zwängen geschuldet war. Wenn es wirkliche Überzeugung gewesen wäre, müsste es noch heute in der Lehrerschaft genauso stark ausgeprägt sein.

Liegt es daran, dass das Umfeld und die Schülerschaft schwieriger geworden sind?

Es ist natürlich leichter, eine Schülerschaft zu unterrichten, die man dispziplinieren kann wie in der DDR. Zudem haben wir heute völlig andere Rahmenbedingungen: Werte werden wenig vermittelt und man kann sich nicht mehr mit den Grundlagen des Zusammenlebens auseinander setzen. Eltern, Lehrer und Politik befänden sich da eigentlich in einer Vorbildrolle.

Angenommen, Sie würden heute als Schulrat einen Lehrer, wie Sie es damals zum Zeitpunkt Ihres Berufsverbots waren, bewerten: Kann er in Ihren Augen Vorbild sein?

In gewisser Weise ja. Ich habe mich ja in einer Wandlungsphase befunden. Als ich in Berlin anfing, hat mein damaliger Schulleiter gesagt: „Die letzten Preußen in Berlin sind die Bayern.“ Wegen der Sekundärtugenden. Wir haben übrigens schon damals Formen von Team-Arbeit praktiziert. Wenn man diese Haltung bei einem Lehrer spürt, kann ich ihn als gut bewerten.

Kann man die Einstellung von Lehrern als Schulaufsichtsbehörde beeinflussen?

Das ist schwierig. Man muss zunächst Erwartungshaltungen formulieren, die man dann als Ergebnis abruft. Wir können nicht in jede Unterrichtsstunde gehen, aber wir können prüfen, ob Schulen die zusätzlichen Stellen für den vorgesehenen Zweck verwenden und ob gewisse Vorgaben umgesetzt werden. Beispiel „Bärenstark“-Projekt: Die Senatsverwaltung hat die Erwartungshaltung formuliert, dass besonders förderungsbedürftige Kinder nach Rückmeldung aus den Schulen in den Kitas für ein halbes Jahr vor der Einschulung intensiv gefördert werden. Nur: Die Kitas haben diese Rückmeldung nicht bekommen. Da müssen wir natürlich die Kontrollen verschärfen.

Viele Lehrer sagen, sie seien genau deshalb frustiert.

Das ist ein Mythos. 99,99 Prozent der Unterrichtstätigkeit werden überhaupt nicht kontrolliert. Es gibt kaum Schulleiter – zumindest im Westteil der Stadt –, die ihre Lehrer im Unterricht besuchen. Der Schulrat kommt manchmal 10 oder 15 Jahre nicht.

Das neue Schulgesetz soll dies ändern, daher klagen viele Lehrer.

Das Problem ist, dass auf die Lehrer nicht nur stärkere Kontrollen zukommen, sondern auch steigende Qualitätsanforderungen. Bisher war unprofessionelles Arbeiten leider sehr weit verbreitet, jetzt wird Professionalität verlangt. Der Hauptgrund für die schlechte Stimmung unter den Lehrern liegt meiner Ansicht auch darin, dass die Senatsverwaltung in ihrer Gesamtheit kein großes Vorbild an Professionalität ist. Was auch nicht verwundert, sie sind ja alle in dem unprofessionellen Klima West-Berlins in ihre Positionen gekommen. Bei unserer letzten Personalversammlung im Bezirk habe ich für einige meiner Erwartungshaltungen auch viel Beifall bekommen. Anforderungen stoßen nicht immer auf Ablehnung, wenn sie überzeugend gestellt sind.

Welche Anforderung stellen Sie an Lehrer?

Ein guter Lehrer ist einer, der im erzieherischen Bereich gute Ergebnisse erzielt: dass die Schüler bestimmte Werthaltungen entwickeln, ein gewisses Leistungsdenken und Anstregungsbereitschaft. Das kann ein Lehrer mit Sicherheit angesichts der Pflichtstundenzahl nicht individuell leisten. Aber er muss in der Lage sein, im Team zu arbeiten. Fehler dürfen und sollen dabei gemacht werden, wenn aus ihnen gelernt wird.

Passt die von Ihnen geforderte Fehlerkultur zu strengen Disziplinarmaßnahmen, etwa gegen streikende Lehrer?

Wenn ein Lehrer streikt, würde ich das nicht als Fehler bezeichnen. Dass viele Lehrer nun wegen der Pflichtstundenerhöhung streiken, halte ich bei allem Verständnis für die Kritik für falsch. Denn der Protest richtet sich gegen die Schüler und nicht gegen diejenigen, an die er adressiert ist.

Sehen Sie sich selbst als Hardliner?

Ich glaube, dass Recht und Gesetz die Basis von Demokratie sind. Man kann sich sein Recht nicht einfach aussuchen und sagen: Das Bundesverfassungsgerichtsurteil gegen Beamtenstreiks gilt für mich nicht. Was die Kategorisierung „Hardliner“ betrifft: Ich würde es für viel sinnvoller ansehen, wenn man sich mit den Inhalten auseinander setzte und mit der Bewertung von Menschen zurückhaltender wäre.

Okay, reden wir über Inhalte: Gibt es Punkte im neuen Schulgesetz, die Sie gut finden?

Die Einführung von Evaluation finde ich sinnvoll. Leistungen und Ausgangsbedingungen von Lehrern und Schülern müssen vergleichbar gemacht werden. Diese Idee habe ich bereits 1997 formuliert. Damals wurde ich stark kritisiert, heute ist es Allgemeingut.

Was kann Bayern vom Berliner Schulsystem lernen?

Da muss ich ehrlich sagen: wenig. Vielleicht noch etwas mehr Mut zu Toleranz, ohne die Berliner Beliebigkeit und Nachlässigkeit zu übernehmen. Momentan lernt im Bildungsbereich eigentlich nur Berlin von Bayern. Beim „Deutsch als Zweitsprache“-Unterricht zum Beispiel. In 25 Jahren hat man es hier nicht geschafft, einen Rahmenplan zu machen. Nun hat man fast ausschließlich den bayerischen übernommen. Aber das ist ja nicht unbedingt schlecht.