Zeit des Leerlaufs

Auf dem Labour-Parteitag will Tony Blair die Pleiten der Vergangenheit vergessen machen. Aber seine Politik ist ziellos und nicht mehr in der Gesellschaft verankert

Blairs Revolution leidet an ihrem Idealismus, der gigantische Beamtenapparate erfordert

Vergesst Irak, David Kelly und die Hutton-Untersuchung. Großbritanniens Labour-Parteitag in dieser Woche wird einen Schlussstrich unter ein bewegtes Halbjahr ziehen. Die Botschaft der Parteiführung um Tony Blair an die misstrauische Basis ist einfach: Wir müssen nach vorn blicken, uns auf unsere gemeinsamen Ziele besinnen und Streit hinter uns lassen. Das Motto des Parteitags „Future Fair For All“ (Eine für alle faire Zukunft) ist auch ein Plädoyer der Regierung für Nachsicht: Jetzt bloß keine Hexenjagd gegen die Kriegsbefürworter.

Die Verwerfungen des Irakkrieges mögen weniger direkte Folgen haben, als es eine Zeitlang aussah, aber sie enthüllen eine grundlegende Schwäche des Projekts New Labour: Es hat keine politische Basis. Der Impuls der Erneuerung, den Blair einst verkörperte, hat sich längst verbraucht; an seine Stelle ist ein Impuls der Selbsterhaltung getreten. Keine auch noch so ambitionierte Reformpolitik wird daran in nächster Zeit etwas ändern. Es droht eine endlose Zeit des Leerlaufs.

Denn im verflixten siebten Jahr seiner Regierungszeit muss Blair entgegen dem Anschein nicht um sein politisches Überleben kämpfen. Zwar genießt er nicht mehr das Vertrauen der Wählerschaft, doch weder ist aus der Opposition eine glaubwürdige Alternative in Sicht, noch ist angesichts einer haushohen Mehrheit im Parlament die Regierungsfähigkeit in Gefahr.

Als Blairs großes machtpolitisches Vorbild Margaret Thatcher nach dem Sieg im Bergarbeiterstreik 1985 und diversen innerparteilichen Krisen vor demselben Problem stand, entschied sie sich für resolute Zentralisierung und eröffnete einem verdutzten Parteitag, sie werde jetzt einfach „weiter und weiter und weiter“ machen, egal was jemand dazu sagt. In diesem Sinne setzte sie Ende der 80er-Jahre das fatale Projekt der Kopfsteuer durch und wurde durch die Partei gestürzt. Doch während Thatcher ein ideologisches Projekt verfolgte, das tief im Selbstbild eines Teils der englischen Gesellschaft verankert war, ist Blair ein reiner Machtpolitiker. Wenn dieser Premierminister nicht mit dem Rücken zur Wand steht, weiß er nicht, was er eigentlich anstellen soll.

Der Thatcherismus war die politische Stimme einer neuen Mittelklasse, die Großbritanniens Nachkriegskonsens als lähmend abschüttelte und sich auf das ungebremste eigene Fortkommen ohne Rücksicht auf gesellschaftliche Konsequenzen konzentrierte. Obwohl diese Lebenseinstellung bei vielen Menschen verhasst war und tiefe soziale Gräben aufriss, übte sie dennoch wegen ihres Versprechens des schnellen Glücks eine nachhaltige Faszination auf alle Teile der Gesellschaft aus und prägte eine bis heute zu spürende Unbekümmertheit in Großbritanniens ökonomischer und kultureller Entwicklung.

Blairs New Labour war darauf die Reaktion einer verzweifelten Linken, in der sich das Nachahmen thatcheristischer Skrupellosigkeit mit diffusen Seligkeitsversprechungen paarte. Wer ab 1994 in die Labour-Partei eintrat, wurde angelockt von Blairs rhetorischen Talenten und dem Eindruck, hier liege die zukünftige Kaderschmiede der Nation. Die Aussicht auf eine „Blair-Revolution“ appellierte sowohl an den althergebrachten Gerechtigkeitsimpuls der Linken wie auch an die seit Thatcher selbstverständliche Einsicht in die Notwendigkeit größtmöglicher Effizienz. Eine Zweidrittelgesellschaft war weder unter moralischen noch unter ökonomischen Gesichtspunkten erstrebenswert. Stattdessen wollte New Labour das ganze Volk – die Arbeitslosen, die Jugendlichen, die Marginalisierten – in ihr „New Britain“ hineinholen.

Aber während Thatchers Wende sich selbst trug, weil hier eine soziale Schicht auf die eigenen Interessen losgelassen wurde, leidet Blairs Revolution an ihrem eigenen Idealismus, der gigantische Beamtenapparate erfordert, um verlorene Teile der Gesellschaft aufzuspüren und ihrem verordneten Glück zuzuführen. Detaillierte Planvorgaben regeln immer mehr Facetten des sozialen Glücks, von Wartezeiten in Krankenhäusern bis zum Prozentsatz ethnischer Minderheiten an Theaterbesuchern. Eine Armee von Prüfern und Bürokraten ist damit beschäftigt, die Erfüllung der Vorgaben zu überwachen. Die Folge ist, dass Labour alle Wahlversprechen brechen muss: Der Staatsapparat wuchert, die Ausgaben explodieren, Steuern steigen – und die öffentlichen Dienstleistungen wollen einfach nicht effizienter und besser werden.

Eine loyale Basis für Blair ist daraus nicht entstanden. Die mutmaßlichen Nutznießer der neuen sozialen Inklusion wählen zwar Labour, aber als Träger einer neuen Ära sehen sie sich nicht. Der Träger der alten Ära Thatcher hingegen, die gewinnsüchtige Mittelklasse der 80er-Jahre, fühlt sich zunehmend entfremdet. Unter Labour ist es nicht mehr angesagt, sich gut zu fühlen, bloß weil man viel Geld hat. Man muss stattdessen immer mehr Geld ausgeben, um nicht abzurutschen. Von hyperinflationären Immobilienpreisen bis zu immer härterer Konkurrenz um private Bildungsplätze verschärft sich der Verdrängungswettbewerb um die nach wie vor raren Plätze auf der Sonnenseite der britischen Gesellschaft. Und das betrifft nicht bloß eine kleine gut situierte Bourgeoisie. Jeder, der heute in Großbritannien Eisenbahn fährt, Kinder zur Universität schicken will oder im Großraum London eine Wohnung sucht, erlebt hautnah, wie einst selbstverständliche Dinge erneut zu kostbaren Privilegien werden.

Der Impuls der Erneuerung, den Blair einst verkörperte, hat sich längst verbraucht

Im englischen Bilderbuchsüdwesten um Devon und Cornwall, wo die Kluft zwischen reichen Zugereisten und marginalisierten Einheimischen immer größer wird, warnt die Polizei bereits vor Unruhen, weil immer mehr Bürger sich weigern, die galoppierende Lokalsteuer „Council Tax“ zu zahlen. In London sorgt Romanschriftsteller J. G. Ballard für Furore im Feuilleton mit seinem neuen Werk „Millennium People“, in dem er einen terroristischen Aufstand desillusionierter Mittelständler beschreibt. Er meint das durchaus ernst: In Interviews erklärt er, wie die englische Mittelschicht ihre gewohnten Sicherheiten und Zukunftsaussichten eingebüßt hat und eine gewaltsame Reaktion unvermeidlich sein wird. All das ist natürlich überspitzt, aber dennoch ist Unzufriedenheit das Modethema des britischen Herbstes 2003.

Mit dem Irakkrieg hat das wenig zu tun. Aber der Irakkrieg sorgt dafür, dass Tony Blair durch diese Entwicklungen verwundbar wird. Denn die eigene Parteibasis, die sich wegen des Krieges verraten fühlt, stützt ihn nur noch zähneknirschend. Die Gewerkschaften, traditionelle Stütze des Parteiapparats, werden ihrerseits militanter, weil die allgemeine Desillusionierung auch ihre Mitglieder betrifft. Und die loyalen Anhänger, die Blair in Kabinett und Downing Street hatte, sind fast alle inzwischen zurückgetreten oder in der politischen Versenkung verschwunden. Chefstratege Alastair Campbell macht jetzt als Letzter das Licht aus. Es dürfte für New Labour eine lange Nacht werden. DOMINIC JOHNSON