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Föderalismus abschaffen?

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Der deutsche Föderalismus kann viele gesamtgesellschaftliche Fragen nicht befriedigend lösen. Es mangelt ihm am demokratischen Esprit. Er blockiert sich selbst.

Jetzt träumen sie wieder. Kaum hat das Verfassungsgericht entschieden, dass sich der Gesetzgeber um die Kopftuchfrage kümmern muss, da meldet sich eine Kultusministerin zu Wort. Uta Erdsiek-Rave (SPD) aus Schleswig-Holstein fleht: Die Länder mögen doch, bitte, eine einheitliche Regelung finden.

Die Frau hat Recht. Und doch klingt es wie eine Drohung, wenn sie jene Institutionen ins Spiel bringt, denen diese Integration garantiert nicht gelingen wird: die Kulturhoheit der Länder, die Kultusministerkonferenz (KMK), kurz den Föderalismus.

Wie sollen ausgerechnet die Kultusminister eine Einigkeit im Kopftuchstreit zustande bringen, wenn ihnen das schon in simpelsten Fragen nicht gelingt? Wir erinnern den Versuch, die Termine der Schulferien zu koordinieren. Da konnten sich Millionen von Eltern von der Leistungsfähigkeit der bekanntesten wie berüchtigsten deutsche Fachministerrunde überzeugen – im Stau. Weil die KMK nicht in der Lage war, die schulfreien Zeiten von 16 Ländern zu entzerren.

Das Kopftuch ist ein besseres, weil politisches Beispiel für die föderale Selbstblockade. Solange es darum eine juristische Auseinandersetzung gab, konnte das Tuch die Schwächen des Föderalismus verhüllen. In dem Moment aber, da das Verfassungsgericht nach einem demokratischen Diskurs ruft und das Parlament auffordert, zu entscheiden, wie ernst es mit der Trennung von Staat und Religion gemeint ist, liegen die Probleme offen da. Entweder die KMK einigt sich – dann aber entzöge sie den Parlamenten die Kopftuchdebatte. Oder sie einigt sich nicht – dann entstünde ein kultur- und ausländerpolitischer Flickenteppich.

Der deutsche Föderalismus kann, so wie er gebaut ist, viele gesamtgesellschaftliche Fragen nicht befriedigend lösen. Siehe Zuwanderungsgesetz: Es ist weithin gesellschaftlich anerkannt – aber die förderale Gesetzgebungskammer Bundesrat blockiert es dennoch. Wie sollen solche Eigensinnigkeiten eigentlich geklärt werden, wenn mit einem an Zuständigkeiten wachsenden Europa noch ein dritter Akteur mit im Spiel ist?

Deutschland ist seit langem bundesstaatlich organisiert. Der Deutsche Bund von 1815 war aus Einzelstaaten zusammengesetzt. Genau wie der Norddeutsche Bund oder das Deutsch Reich. Nur waren die deutschen Föderalismen immer machtpolitische Kompromisse, hergestellt zwischen den herrschenden Preußen und renitent eigenständigen Territorien wie Bayern. Dem deutschen Bundesstaat fehlte stets der demokratische Esprit, den etwa die US-Verfassung enthält: Die Idee, dass das Volk doppelt souverän ist – im Land und im Bund.

Auch in den Inhalten, den Politikfeldern, welche die Länder beackern, stößt der Föderalismus an seine Grenzen. Verfassungsjuristen bezeichnen die wichtigste Materie, die in der Hoheit der Länder liegt, als deren Hausgut. Gemeint sind Bildung und Wissenschaft. In keinem anderen Feld aber haben die Länder derart versagt. Aus Bildungsstudien wissen wir, dass die Lernunterschiede zwischen einzelnen Regionen bei über zwei Jahren liegen. Heißt: Achtklässler in Bremen sind in Wahrheit erst Sechstklässler.

Diese Differenz ist nicht hinnehmbar. Sie verletzt die Gleichartigkeit der Lebensverhältnisse, und sie zersetzt die Grundidee des föderalen Staates. Der will politische und kulturelle Unterschiede der Gliedstaaten anerkennen – in Wahrheit hat er sie beim Lernerfolg so weit vergrößert, dass der Zentralstaat, Bundestag und -regierung, längst einschreiten müsste. Es gibt das Bonmot, dass die Ministerpräsidenten nur mehr Regierungspräsidenten wären, wenn man ihnen ihr Hausgut wegnähme. Warum eigentlich nicht? Die Landesfürsten kümmern sich um Bildung nur in Wahlkämpfen und Sonntagsreden. Wochentags muss das sperrige Thema hinter jener Aufgabe zurückstehen, die mehr öffentliche Aufmerksamkeit verspricht: Gesetzgebungen des Bundes im Bundesrat zu verzögern, zu verschlimmbessern oder gleich zu verhindern. Regierungspräsidenten wären da viel konstruktiver. CHRISTIAN FÜLLER