Schaut auf diese Schleifen – und zupft!

Zum 50. Todestag des früheren Regierenden Bürgermeisters Ernst Reuter legt ein Nachfolger im Amt mit anderen Kränze an dessen Grab nieder

„Ernst Reuter zum Gedenken. 29. September 1997“ steht auf der BVG-Schleife

von PHILIPP GESSLER

Wer was erreicht hat im Leben, kommt zur Ehre des Zupfens. Harald nicht, er lebte nur vom 11. Februar 1949 bis zum 22. Juli 1950. „Unser S nnens hein“, ist auf seinem verwitterten Grabstein zu lesen. Kein Politiker war je an seinem Grab, um die Schleife eines Blumenbestecks zurechtzuzupfen, ihm zu Ehren. Dabei scheint das hier doch ehrenhafter Boden zu sein: Harald liegt wenige Gräber entfernt von Bubi Scholz, dessen Grabstein das Bild von Boxhandschuhen ziert, die an einem Nagel hängen. Etwas weiter entfernt liegt Hildegard Knef von Schell, geboren am 28. Dezember 1925, gestorben am 1. Februar 2002. Ihr Grab ist übersät mit Blumen, als könnte dadurch noch Leben hineinwachsen. In ihren Grabstein ist eine Rose eingemeißelt, die ein Blatt verliert.

Und zwischen Harald, Bubi und Hildegard ist da noch das Grab von Ernst. Ernst Reuter. Sein Name steht auf seinem Grabstein. Ebenso der seiner Frau Hanna. Sonst nichts, kein S nnens hein als Zierde, keine Boxhandschuhe, keine Rose. Dafür säumen am heutigen Tag gut ein Dutzend Kränze sein Grab. Mit Schleifen, die man zurechtzupfen kann. Es ist der 50. Todestag des früheren Regierenden Bürgermeisters Westberlins. Politiker haben sich heute hier auf dem Waldfriedhof Zehlendorf angemeldet. Sie wollen ihn ehren.

In knapp zwanzig Minuten wollen sie kommen, der Bundestagspräsident Wolfgang Thierse, der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit (beide SPD) und einige andere Landespolitiker. Auch Reuters Sohn Edzard, früher Chef von Mercedes-Benz und selbst Ehrenbürger der Stadt, soll dabei sein. So etwas wie der Kranzbeauftragte der Zeremonie weist jedoch noch Journalisten ein, was geschehen wird, wann die Prominenten wohin gehen werden und wo die Kameras stehen sollen, „damit ein Bild entsteht, wo die zupfen“.

Der Mann ist aufgekratzt. Er erklärt den Journalisten, dass die Prominenz vom Hauptweg kommen werde, hinter dem Grab einbiegen soll in einen Seitenweg, dort, genau hinter dem Grab Reuters, eine Verbeugung vor dem Grab Willy Brandts machen werde, um dann von hinten zum Grab des zu Ehrenden zu schreiten. Eine Journalistin erkundigt sich, wo „gezupft“ werde. Reuter hat ein Ehrengrab der Stadt, die kümmert sich darum, dass die Grabstätte nicht verwildert. Bubis’ Grab ist ebenfalls ein Ehrengrab, auch Hildegards und Willys, Haralds nicht. Es gibt keine Gleichheit im Tod.

Pünktlich um 10.00 Uhr sieht man sie kommen, die wichtigen Menschen. An wessen Grab werden einst andere wichtige Menschen Schleifen zurechtzupfen? Die Prominenten mit ihrer Entourage von Leibwächtern und Semi-Prominenten biegen in den Seitenweg ein. Sie gehen am Grab von Willy Brandt vorbei. Niemand verbeugt sich, nicht Wowereit, nicht Thierse, nicht Walter Momper, jetziger Präsident des Abgeordnetenhauses, früher Regierender Bürgermeister der Stadt. Wie Wowereit heute, wie Willy Brandt früher, wie Ernst Reuter davor.

Ist irgendjemand der Fauxpas aufgefallen? Wowereit wirkte etwas verunsichert, als die Gruppe verbeugungslos am Grab seines früheren Parteivorsitzenden und Bundeskanzlers vorbeischritt. Jetzt laufen die Prominenten an den Kränzen vorbei. Die BVG hat gespart. Der Kranz des Vorstandes und der Mitarbeiter der Verkehrsbetriebe hat eine veraltete Schleife: „Ihrem unvergessenen Ernst Reuter zum Gedenken. 29. September 1997“, steht darauf.

Nun gehen Thierse, Wowereit und Momper zu ihren Kränzen. Zum Zupfen. Jetzt verbeugen sie sich auch. Dann treten sie zurück. Edzard Reuter geht mit seiner Frau zum Grab. Er verbeugt sich nicht, er hat nichts zum Zupfen. Doch im Gegensatz zu allen anderen hier scheint er bewegt zu sein. Wowereit spürt das offenbar. Er wendet sich zum Ehrenbürger, gibt ihm die Hand, sagt irgendetwas. Dann ist genug gezupft und verbeugt worden. Der Protokollchef macht ein Zeichen, die Gruppe setzt sich in Bewegung. Der Regierende gibt einem Fernsehsender noch ein Interview. Welche „persönliche Erinnerung“ er an Reuter habe, fragt der junge TV-Mann. Wowereit fängt nicht an zu lachen. Am Mittwoch wird er 50.

Zurück auf den Hauptweg, beantwortet er noch ein paar Fragen – etwa die, warum Ernst Reuter kein Ehrenbürger werden dürfe. Anders als sein Sohn, anders als Willy Brandt. Den Sommer über hatte es eine unschöne Diskussion darüber gegeben. Der Senat hatte die Ehrenbürgerwürde für Reuter senior abgelehnt, da sie nur an Lebende vergeben werde. Aber andere haben sie doch auch posthum erhalten. Ja, sagt Wowereit, aber bei Marlene Dietrich etwa sei das ja auf einen Parlamentsbeschluss hin geschehen. Außerdem habe Berlin damit auch versucht, ihr gegenüber etwas gutzumachen.

Eine Japanerin filmt das Grab von Ernst Reuter – sie saß schon im Linienbus mit der Kamera in der Hand und drehte den Weg zum Haupteingang des Waldfriedhofs. An der Bushaltestelle fragt sie, von welcher Partei man sei. Dann erzählt sie etwas von Ernst Reuter, doch wegen des Lärms der Straße und ihres Akzents ist so gut wie nichts zu verstehen. Im Bus kommt sie mit einer anderen Frau ins Gespräch, die ein paar Blumen an das Grab von Reuter gelegt hatte. Die Berlinerin, Jahrgang 1934, erzählt, wie sie mal mit ihrem kleinen Bruder auf einer Kundgebung bei strömenden Regen eine Rede Reuters gehört hat. Der Mann habe ein Gefühl von Sicherheit und Väterlichkeit vermittelt, sagt sie. Die Dame erinnert an Reuters Rede während der Berlin-Blockade 1948: „Ihr Völker der Welt … schaut auf diese Stadt!“ Wenn er heute auf seine Stadt schaute, meint sie – oje! Dann berichtet sie noch, wie Reuter sie und ihren Bruder völlig durchnässt zur nächsten U-Bahn-Station in seinem Dienstwagen mitgenommen habe. Sie hätte an einer der Schleifen zupfen sollen.