Atemlos

Andrew Millers Roman „Zehn oder fünfzehn der glücklichsten Momente des Lebens“

Allesamt drohen Andrew Millers Figuren an ihren vielen Lügen zu ersticken

„Oxygen“ heißt Andrew Millers jüngstes Buch im Original – und es bleibt das Geheimnis des Wiener Verlages, warum er sich für einen anderen Titel entschieden hat. Gewiss handelt das Buch des britischen Autors, der bislang vor allem durch historische Romane von sich reden gemacht hat, auch von „Zehn oder fünfzehn der glücklichsten Momente des Lebens“ – und unter rein verkaufsstrategischem Aspekt ist das sicher keine schlechte Wahl. Dennoch hätte eine einfache Übersetzung des Originaltitels besser gepasst, denn vielen der Figuren, die sich auf den verschiedenen Schauplätzen von San Francisco bis Budapest tummeln, bleibt zunächst einmal buchstäblich die Luft weg.

Da ist etwa Alice Valentine, eine pensionierte Lehrerin, die an Bronchialkrebs erkrankt ist und nun im Sterben liegt. Sie braucht einen Inhalator, ebenso wie ihre sechsjährige Enkelin, die unter Asthma, extremer Introvertiertheit und Kleptomanie leidet. Aus Amerika kommt das kleine Mädchen mit ihrem Vater Larry Valentine, einem ehemaligen Tennisstar und Soap-Darsteller, der nun mangels attraktiver Angebote in Pornofilmen mitspielt, nach London angeflogen, um Großmutters letzten Geburtstag zu feiern. Ebenfalls angereist ist Alec, der zweite Sohn der alten Dame, ehemals Französischlehrer an einer Londoner Schule, der „in der Mittagspause eines erbarmungslosen Dienstags nach den Weihnachtsferien“ einfach weggelaufen und seitdem als freier Übersetzer tätig ist. Bei dem Stück, an dem er gerade arbeitet, handelt es sich um ein Werk namens „Oxygène“ des ungarisch-französischen Dramatikers László Lázár, der es sich nach dem Ungarnaufstand 1956 im Pariser Exil zusammen mit seinem Lebensgefährten Kurt zwischen Kalbsrouladen und Crème anglaise komfortabel eingerichtet hat. Die Rolle vom tapferen Widerstandskämpfer gegen das sowjetische Militär, an die er schon fast selbst glaubt, steht ihm immer noch gut, auch wenn er inzwischen Sauerstoff-Creme gegen seine Falten und ein Medikament für seine verschleimten Lungen benötigt.

Ein bisschen aufdringlich diese Häufung von Atemwegserkrankungen, ein bisschen zu deutlich die Sauerstoffsymbolik, die sich durch das ganze Buch zieht und die disparaten Handlungsebenen und verschiedenen Protagonisten miteinander verbindet. Allesamt drohen sie an ihren Lügen zu ersticken, doch nur Larry gelingt es am Ende, sich aus dem verwickelten Knäuel aus Fremd- und Selbsttäuschungen zu befreien. Während er eines Nachts seine Mutter säubert, erzählt der einstige Vorzeigesohn ihr die Wahrheit von seinen Pornofilmen, den Alkohol- und Drogenexzessen, den „miesen Momenten aus seiner Tour durch die Bars und Motelzimmer von Amerika“. Angesichts des Todes erkennt er, dass die wahre Stärke im Eingeständnis der eigenen Schwäche und der Aufdeckung des Selbstbetrugs liegt.

Die Kapitel aus der Sicht des gefallenen Serienstars und der sterbenden Mutter zählen denn auch zu den stärksten Passagen dieses überraschend unsentimentalen Romans, der durch einen ausgeprägten Sinn für Details und seine klare, bilderreiche Sprache besticht. Allerdings erscheint das Ende des Buches angesichts der Dramatik, die noch auf den letzten Seiten aufgebaut wird, merkwürdig abrupt. Als sei dem Autor plötzlich die Puste ausgegangen.

MARION LÜHE

Andrew Miller: „Zehn oder fünfzehn der glücklichsten Momente des Lebens“. Übersetzt von Nikolaus Stingl. Zsolnay Verlag, Wien 2003, 335 S., 21,50 €