Zwei Gläschen Gift pro Bauernhof

VON BERNHARD PÖTTER

Wenn Siegfried H. nach einem langen Arbeitstag in der Stadt auf seinen Hof zurückkommt, muss alles schnell gehen. Der „Nebenerwerbslandwirt“ befüllt den Pestizidtank seines Traktors – kleckert dabei manchmal ein bisschen – und fährt aufs Feld. Vielleicht nimmt er dafür ein Pestizid, das nicht mehr zugelassen ist. Vielleicht achtet er in der Eile zu wenig auf die Windrichtung. Vielleicht spritzt er einen Meter zu nahe am Bach, der durch seinen Obstgarten fließt. Vielleicht spült er die Pflanzengiftreste abends auf seinem Hof beim Waschen der Spritzdüsen in die Kanalisation. Von den Insekten in seinem Bach mal abgesehen, merkt das niemand. Das soll sich ändern. In Zukunft könnte der fiktive Bauer H. Besuch bekommen. Ein freundlicher Mensch würde an seiner Tür klingeln und ihn darauf hinweisen, seine Spritzdüsen auf dem Feld zu reinigen. Der Besucher hatte Siegfried H. mit dem Fernglas beim Spritzen beobachtet. Ein Bußgeld gibt es für H. nicht. Doch der Besucher hat notiert, woran der schlampige Umgang mit den Giften lag: altes Material? Zeitdruck? Unwissenheit? Gleichgültigkeit?

Dieses Besucherprogramm heißt offiziell „unangekündigte Feldbeobachtung“ und ist der derzeit am heftigsten umkämpfte Konflikt zwischen Landwirten und Umweltschützern in Deutschland. Die Observation von Bauern, die mit Pestiziden umgehen, ist ein Forschungsprojekt des Umweltbundesamtes (UBA) in Berlin, das für große Empörung bei den Landwirten sorgt. Das UBA will sich zum ersten Mal überhaupt einen Überblick verschaffen, wo, wie und warum in Deutschland immer noch viel mehr Pestizide in Gewässer und Böden gelangen als erlaubt. Die Bauern fühlen sich pauschal als Giftspritzer verunglimpft. Ein „wissenschaftlicher Begleitkreis“, in dem auch Vertreter der Bauern sitzen, soll deshalb das Projekt begleiten. Heute stellt das UBA das umstrittene Konzept einem kleinem Kreis von Experten aus Behörden, Bauernverband, Umweltschutzorganisationen und Agrarindustrie vor.

Grund zum Misstrauen gegen Deutschlands Bauern gibt es genug. Seit Jahren sammeln die Pflanzenschutzämter der Länder und das UBA in Berlin Daten über die Belastung der Umwelt mit Pestiziden – und sind permanent alarmiert über die hohen Werte. 34.678 Tonnen Gifte gegen Unkräuter, Pilze und Insekten wurden laut Agrarministerium 2002 in Deutschland verkauft. 30 Tonnen davon landen jedes Jahr in Bächen, Teichen und Flüssen. Auch wenn die Grenzwerte für Trinkwasser eingehalten werden, töten die Gifte ganze Ökosysteme kleiner und kleinster Wasserlebewesen – mit allen Folgen für die Balance der Ökosysteme am Fluss. „In den großen Flüssen gibt es kaum akute Vergiftungen, weil die Pestizide stark verdünnt werden“, sagt Klaus Steinhäuser, Leiter des Fachbereichs Chemikaliensicherheit beim UBA. „Aber in manchen kleinen Flüssen kommt es immer wieder zum Absterben aller Organismen.“

Die UBA-Forschung über die Gründe des bäuerlichen „Fehlverhaltens“ ist ein wichtiger Baustein in einer allgemeinen Strategie der rot-grünen Bundesregierung zur Reduzierung des Gifteinsatzes auf den Äckern. Im Koalitionsvertrag wurde dieses Ziel vereinbart. Nach zwei Jahren der Beratung liegt jetzt ein Konzept mit Strategien zur Pestizidreduktion auf dem Schreibtisch von Agrarministerin Renate Künast.

Trotz aller Datenflut gibt es allerdings bislang keine genaue Statistik darüber, wo welche Pestizide in welcher Menge eingesetzt werden. Doch die verfügbaren Daten zeigen, dass Deutschlands Landwirte kräftig die chemische Keule schwingen. Messungen der TU Braunschweig ergaben, dass von etwa 60 Pestiziden über 30 Stoffe vereinzelt oder permanent die Grenzwerte überschritten. Pro Saison gelangen demnach von jedem Bauernhof etwa 30 Gramm Pestizide, zwei Schnapsgläser voll, in die Gewässer – genug, um den täglichen Trinkwasserbedarf von zwei Millionen Menschen zu verseuchen. Andere Studien zeigen, dass die Artenvielfalt von Gewässern, die an konventionellen Äckern liegen, deutlich geringer ist als im Biolandbau. In diesem Sommer alarmierte eine Untersuchung der EU die deutschen Verbraucher: Demnach war von knapp 7.000 Stichproben bei Obst und Gemüse in deutschen Supermärkten mehr als die Hälfte mit Giftstoffen belastet. Bei rund neun Prozent wurden die Grenzwerte überschritten.

Zu unrühmlicher nationaler Berühmtheit ist dabei das Obstanbaugebiet „Altes Land“ bei Hamburg gelangt. Die Anbaugegend, die einen großen Teil der in Deutschland verzehrten Äpfel produziert, ruft immer wieder Pestizidskandale hervor. Seit Jahren sind zum Teil weit überhöhte Pestizidrückstände in den Gewässern messbar. Nachgewiesen werden hier auch Pestizide, die längst verboten sind. Die Bauern halten sich nicht an die Auflagen, dokumentieren ihre Pestizideinsätze nicht und arbeiten nicht mit den Pflanzenschutzämtern zusammen. Im Frühjahr 2004 meldete das UBA den neuesten Skandal aus dem Alten Land (s. unteren Text).

Bauernverband und Agrarindustrie nehmen beim Pestizideinsatz die Bauern in Schutz. Sie sprechen von „einzelnen schwarzen Schafen“ und warnen davor, einen ganzen Berufsstand zu kriminalisieren. Manchmal wissen sie es aber besser: In einer Umfrage unter 1.000 Bauern gaben 2002 etwa ein Drittel der Landwirte zu, dass sie mit den Pestiziden beim Einfüllen in die Transportbehälter auf dem Hof regelmäßig kleckerten. Den Beweis dafür, wie sorglos die Bauern mit den Giften umgehen, wollte der Bauernverband aber nicht veröffentlichen.

Entsprechend heftig war die Reaktion der Bauernvertreter auf die Pläne des UBA zu einer Überwachung der Bauern. Während die Behörde betonte, man wolle anonyme Daten sammeln und die Bauern beraten, wie sie sich, ihren Äckern und den Gewässern eine weitere Pestiziddusche ersparen, sprachen Bauernvertreter und FDP-Opposition schnell von „Bauernspionen“, die auf die Landwirte losgelassen werden sollten. Inzwischen unterstützt der Bauernverband (DBV) „das Ziel, die Fehlerquote beim Pestizideinsatz zu reduzieren“, sagt der Sprecher des DBV, Michael Lohse, spricht sich aber gegen die jetzt geplante Kontrolle aus: „Aber es kann nicht sein, dass wir Bauern aus dem Internet erfahren, dass das UBA Menschen sucht, die uns ausspionieren.“ Auch müssten die Kontrollen auf den Höfen, die im Zuge der EU-Agrarreform ohnehin zunähmen, gebündelt werden. Das Problem des fehlerhaften Umgangs mit Giften reduziert sich nach DBV-Meinung aber ohnehin: „Schon jetzt ist ja der Einsatz deutlich zurückgegangen und viel punktgenauer geworden“, so Lohse. Und in der Zukunft gingen immer mehr Bauern dazu über, Aufträge wie Düngen oder Spritzen an Dienstleister zu vergeben. Das seien dann Profis mit den neuesten Maschinen und dem besten Fachwissen.

Volle Unterstützung bekommt das UBA-Projekt vom „Pestizid-Aktions-Netzwerk“ (PAN), das seit Jahren für eine deutliche Reduzierung der Ackergifte wirbt. „Mit den Daten wird endlich die Realität abgebildet“, sagt Carina Weber von PAN, „denn bisher hat niemand ein Interesse daran, die Regeln einzuhalten, weil von den Pflanzenschutzämtern der Länder viel zu wenig kontrolliert wird.“ Weber wünscht sich, Künasts Strategie zur Pestizidreduktion ginge über die Einhaltung der Grenzwerte hinweg. PAN fordert, dass die Menge der eingesetzten Pestizide in Deutschland in fünf Jahren um 30 Prozent sinkt. „Auch der Handel und die Verbraucher müssen mitmachen“, sagt Weber. „Warum gibt es in den Supermärkten keine Stände, in denen den Kunden Häppchen angeboten werden von konventionellen Äpfeln aus Deutschland, die ohne Pestizide angebaut werden?“