Die Schulschwänzer

Im Rahmen seiner Schulwochen zeigt Arte eine beeindruckende Doku über Kinder, die morgens zu Hause bleiben („Schwänzen macht Schule“, 20.45)

VON STEFFEN GRIMBERG

„Nimmt eine schulpflichtige Schülerin oder ein schulpflichtiger Schüler ohne berechtigten Grund nicht am Unterricht teil […], entscheidet die zuständige Schulbehörde im Benehmen mit der Schulleitung […] über die Zuführung durch unmittelbaren Zwang.“ (§ 45 des Berliner Schulgesetzes)

Der Film beginnt wie ein Trip ins große Unbekannte, ein Aufbruch in ferne Welten, fremde Kulturen. „Im Osten der Stadt treffen wir junge Schulverweigerer“, sagt die Stimme der Expeditionsleiterin. „Es dauert lange, bis sie uns vertrauen.“

Das hört sich zwar zunächst wie die glasperlenverspielte Anmoderation eines völkerkundlichen Kulturfilms an. Doch es passt: Alice, Mandy, Mathias und die anderen sind mitten in der deutschen Einheitsgesellschaft in eine Zwischenwelt geraten. Sie gingen zum Teil jahrelang nicht regelmäßig zur Schule.

„Schwänzen macht Schule“ hört sich harmlos an, und so begegnen uns in der Dokumentation von Daniela Schmidt und Eva Schmitz auch ganz normale junge Menschen zwischen 13 und 16. Doch anstelle ihre Vormittage in der Schule zu verbringen, gehören sie zu den 80.000 „harten“ Schulverweigerern, die es laut Film in Deutschland gibt – davon allein 15.000 in Berlin.

„Wer funktioniert, kommt mit. Wer’s nicht schafft, fällt raus“, lautet die so lapidare wie brutale Realität im Schulbetrieb. Es trifft vor allem jene, die keine Regeln gelernt haben, die nicht in festen Strukturen leben. Die 13-jährige Alice zum Beispiel, aufgeweckt, ein kleiner Kobold, die von ihrer halbseitig gelähmten Mutter für drei Jahre ins Heim gesteckt wurde. Es trifft Menschen wie die heute 16-jährige Mandy, die aus eher begüterten Kreisen kommt – die Mutter ist selbstständige Beraterin, der Vater Computer-Fachmann. Anders als bei Alice war immer Geld da, nur Zeit hatten ihre getrennt lebenden Eltern in den entscheidenden Momenten nie für sie.

Der Film begleitet sie in den verschiedenen Projekten, die ihnen eine Rückkehr in den normalen Schulalltag ermöglichen sollen. „Die meisten kommen pünktlich. Zu Hause gibt es keine regelmäßigen Mahlzeiten“, heißt es beim Jugendwerk Aufbau Ost (JAO), einer Einrichtung in Berlin-Marzahn, die Alice besucht. Comiczeichnerin will sie werden. Beinahe alle Jugendlichen, die der Film porträtiert, haben so einen Traum, der sie bei der Stange hält. Doch die Realität, vor allem die ihrer Erziehungsberechtigten, macht ihnen immer wieder einen Strich durch die Rechnung: Am Ende des Films erfahren wir, dass Alice das JAO-Projekt verlassen musste. Ihre Mutter hat sie wieder ins Heim gegeben.

Zwei Dinge erstaunen an der Doku im Rahmen des Arte-Themenabends „Schulverweigerer“ besonders: die Ehrlichkeit des Films – wie die der verhinderten SchülerInnen. Sie belegt, wie gut es ihnen tut, dass endlich jenseits gängiger Klischees jemand Interessen an ihnen zeigt.

Genauso beeindruckend ist die Cleverness der Jugendlichen: Nein, hier hat man es eben nicht mit Dumpfbacken zu tun, eher im Gegenteil. „Die Intelligenten haben’s immer schwerer, sich anzupassen“, sagt die den Film mitsichtende Lehrerin. „Sie bekommen nur Ablehnung gezeigt und reagieren dann selbst mit Ablehnung – mein Gott, das sind Kinder.“ Dass sie sich außerhalb der Schulstrukturen durchschlagen, hat sie streetwise gemacht – und fordert den Betreuern in den rund 50 mit Schulverweigerern arbeitenden Institutionen jede Menge ab: „Verweigerer – das haben sie gut gelernt“, sagt im Film Toralf Günther von JAO.

Geholfen hat dabei auch das Medium Fernsehen selbst: Die AutorInnen haben die Jugendlichen mit kleinen Handkameras ausgerüstet, sie bestimmen einen Gutteil des Films mit. Und vor allem bei den Älteren, die sich gegenseitig über ihre Biografie und Schulerfahrungen befragen, verblüfft, wie souverän, informativ und persönlich sie ins Mikro sprechen – mancher Politiker könnte hier lernen, was Authentizität wirklich heißt.

Anschließend (21.50 Uhr) läuft die Doku „A wie Ausstieg“ über Schulunlust und Schuldistanz in Frankreich