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: Gewissen ist mehr als eine Ausnahme

Der SPD-Fraktionsvorsitzende Franz Müntefering sieht es so: Das Votum der SPD-Dissidenten gegen die Gesetzesvorlage zur Gesundheitsreform sei kein Fall von Gewissensentscheid, weshalb es unzulässig sei, dass sich die Nein-Sager darauf berufen hätten, „nur ihrem Gewissen unterworfen zu sein“, wie es das Grundgesetz in Artikel 38 bestimmt. Er meint, dass Gewissensentscheide ethischen Grundsatzfragen vorbehalten sind, wo die Politik hinter dem „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“ zurückzutreten hat. Also ein Fall für Ausnahmefälle. Das klingt vernünftig, ist aber mit dem Grundgesetz unvereinbar.

Kommentar von CHRISTIAN SEMLER

Gewissensentscheide von Abgeordneten sind nicht objektivierbar, sie können nicht in einem Grundsatzkatalog aufgelistet werden. Es reicht, wenn ein Parlamentarier sein Votum zur Gewissenssache erklärt, und damit basta. Schon eine genaue Lektüre des Artikels 38 GG belehrt uns, dass sich das „nur“ in der Formel „nur ihrem Gewissen“ auf sämtliche politische Sachgebiete bezieht. Im selben Artikel wird ausgeführt, dass der Parlamentarier an Weisungen nicht gebunden ist – und damit auch nicht an die Weisungen seiner Fraktion. Dies resultiert aus dem Prinzip, dass jeder Abgeordnete als Vertreter des ganzen Volkes handelt.

Da Müntefering schon bei der Abstimmung über den Mazedonien-Einsatz der Bundeswehr im Herbst 2001 gegenüber Abweichlern haargenau dieselbe Argumentation auftischte wie jetzt, haben wird es hier mit einem hartnäckigen Überzeugungstäter zu tun, der die „Fraktionssolidarität“, sprich den Fraktionszwang, über die Verfassung stellt. Gewiss, er kann darauf verweisen, dass fast alle Abgeordneten ihr Mandat der Partei verdanken, von ihr abhängig sind, nicht zuletzt auch materiell. Eine ganz andere Frage ist allerdings, ob Strafmaßnahmen dieser Art auch noch mit dem Argument gerechtfertigt werden, die Abweichler hätten sich missbräuchlich bei ihrer Abstimmung auf ein verfassungsmäßiges Recht berufen.

Als Organisationschef seiner Partei hat Müntefering sich den Kopf darüber zerbrochen, wie sich die SPD der organisationsscheuen Individualisten versichern könnte. Als Fraktionschef, der die Peitsche schwingt, verprellt er genau die, die er gewinnen will. Geduldete Dissidenz ist attraktiv, die Losung „Nur Einheit sichert den Machterhalt“ schreckt ab. Vor allem, wenn sie bei jeder Gelegenheit und mit einem solchen Verfassungsverständnis vorgebracht wird.