Pornografen im Paradies

Das Reale ist digital oder kriminell: Zumindest in der Welt des b.film Festivals. David Cronenberg und Larry Clark stellen die mächtigen Paten im Geschäft mit dem schwer verleihbaren Film

Das wacklige Digital-bild ist Synonym für den Bruch im Realitätsgefüge

von ANDREAS BUSCHE

Die merkliche Lust am Programmieren eines Festivals, ohne filmpolitische Konzessionen an lästige Faktoren wie Verleiher, Stars, Fördergremien und – nicht zuletzt – konkurrierende Festivals, ist das größte Plus, mit dem b.Film seit seiner Gründung – zunächst noch unter dem Namen BerlinBETA – hausieren gehen kann. Exklusivität ist hier kein Faktor, wegen dem man sich in Berlin die Laune verderben würde. Dafür gibt es da draußen zu viele Filme, die nach einer kurzen Existenz im internationalen Festival-Circuit auf Nimmerwiedersehen verschwinden. In der unübersichtlichen deutschen Verleihlandschaft kommt unabhängigen Publikumsfestivals wie b.Film daher eine wichtige Rolle zu: zum einen als letzte Abspielstätte für international hoch gelobte Produktionen mit wenig Aussichten auf einen deutschen Verleih. Zum anderen als Teststrecke für kommerziell wackelige Kandidaten.

Es ist, wie Festivalleiter Andreas Döhler im diesjährigen Programmheft schreibt, sehr bezeichnend, dass mittlerweile selbst ein Regisseur wie David Cronenberg in letztere Kategorie fällt. Cronenbergs „Spider“, inzwischen fast zwei Jahre alt, ist sicher einer der Höhepunkte des diesjährigen Festivals. Ralph Fiennes Porträt eines Schizophrenen verweigert sich jeder klinischen Analyse und führt den Zuschauer direkt in den Kopf des Protagonisten. Die Bilder, die Cronenberg für den Zustand seiner Hauptfigur findet, sind verstörend wie eine böse Heimsuchung, tendieren aber auch zu einer Plastizität, die dem Prinzip des Realitätsverlusts stellenweise zuwiderläuft. „Spider“ ist nach „Die Unzertrennlichen“ zweifellos Cronenbergs reifster Film, und verdient allein daher schon größte Beachtung.

„Spider“ ist jedoch nicht der einzige Film, der sich dem Thema der Entfremdung und des Realitätsverlusts annimmt. Oliver Assayas hat sich mit „Demonlover“ selbst auf Cronenberg-Terrain begeben; sein Cyberthriller um Industriespionage, 3-D-Manga-Pornografie und künstliche Gedankenimplantate in einer von Sex und Verbrechen diktierten „Corporate Society“ leidet allerdings zu sehr unter der „Videodrome“-Bürde. Man merkt dem „Irma Vep“-Regisseur an, wie fremd er dem unterschiedlichen Filmmaterial ist, das sich in „Demonlover“ zum Soundtrack von Sonic Youth zu einer atemlosen Collage zusammenfügt.

Vincenzo Natalis „Cypher“ kann mit dem glamorösen Warenfetisch Assayas (Sex, Software, virtuelles Geld) nicht mithalten. Seine Hauptfigur Morgan Sullivan wirkt wie ein frustrierter Arbeiter aus einer Philip K. Dick-Geschichte. Wo die slicke Digitalästhetik in „Demonlover“ aber jeden Winkel in kaltes Licht taucht, verfängt sich Morgan Sullivan in den düsteren Seitengassen seines Selbst, die entfernt an die tödlichen Würfel aus Natalis Debütfilm „The Cube“ erinnern.

Dass der Hauptblock in dieser Programmwüste des Realen um das Thema der digitalen Filmproduktion kreist, kann da kaum überraschen. Ist das verwackelte Digitalbild inzwischen doch Synonym für den Bruch im Realitätsgefüge. Die deutschen Produktionen „[1]/2 Miete“ und „Identity Kills“ überführen das Thema des Identitätsverlustes in die körnige DV-Bilderwelt der „Digital Visions“. Die beiden Festivalleiter Andreas Döhler und Anatol Weber betonen ausdrücklich, wie wichtig ihnen dieser Aspekt bei der Programmierung ihres Festivals ist. Was sich im letztjährigen „Digital Visions“-Block bereits andeutete, ist heute Gewissheit: Die digitale Filmproduktion hat sich von ihren Kodizes und Manifesten verabschiedet und hat abseits aller Dogmen eine eigenständige Filmsprache entwickelt. „Digital Visions“ steht 2003 ganz im Zeichen des deutschen Films und hat mit der Zuhälter-Safari „Hotte im Paradies“ vom neuen DV-Apologeten Dominik Graf auch einen würdigen Eröffnungsfilm gefunden.

Das ist nur ein kleiner Vorgeschmack auf ein an Höhepunkten wahrlich nicht armes Filmfestival: Die hervorragende Skater/Skateindustrie-Doku „Stoked – The Rise and Fall of Gator“, Kim Ki-Duks Meisterwerk der seelischen Verelendung „Address Unknown“, das bizarre FKK-Musical „The First Nudie Musical“, Roman Coppolas kleines 8 [1]/2 namens „CQ“, Michael Winterbottoms postmodernes Postpunk-Dokument „24 Hour Party People“ und der neueste Jess Franco-Film „Killer Barbies vs Dracula“ sind die Eckpfeiler eines bemerkenswerten Nischenprogramms, das sich zwischen Pop-Avantgarde und Ultra-Trash ausbreitet.

Über allem aber thront der geile Onkel Larry Clarke, von dem auf b.Film gleich zwei Filme zu sehen sind: Sein mit Abstand bisher bester Film „Ken Park“ beginnt in einem der typischen amerikanischen Vororte Californiens, mit einem typischen Idyll. Ein Skater rollt über die Bürgersteige. Spätestens aber, wenn er seine DV-Kamera hervorholt, ahnt man Unheil und davon bleibt dann auch kein Tabu amerikanischer Familien verschont. Sozusagen als Antithese kann man Clarkes– Remake eines alten Roger Corman-Klassikers namens „Teenage Caveman“ sehen: eine wüste Mischung aus „Kids“ und George Romeros Zombiefilm „Day of Dead“.

b.film + digital vision Festival, 2. bis 8. Oktober, im Eiszeit, Central, Blow up, Hackesche Höfe und Filmkunsthaus Babylon, Programm siehe tazplan. Eröffnungsparty „Red Light District“ am 2. Oktober, im Medias, Neue Promenade 10, Berlin-Mitte