Die Linsen der Privaten sind außer Kontrolle

Wer über Einkaufsmeilen wie die Friedrichstraße spaziert, gerät unausweichlich in den Blick von Überwachungskameras. Sie werden massenhaft von privaten Hausbesitzern und Firmen installiert. Der Umgang mit gesetzlichen Vorschriften ist dabei mehr als lax. Datenschützer verlieren den Überblick

„Teilweise kann man von flächendeckender Überwachung sprechen“

von STEFFEN BECKER

Auf den ersten Blick sieht die Kamera aus wie eine Lampe. Runde Form, schwenkbare Linse – damit könnte man die ganze Straße überwachen. Wer beobachtet die Bilder? Welchen Ausschnitt nimmt sie wahr? Was passiert mit der Aufnahme? Geht man offenen Auges durch Berlin, können einem solche Fragen ständig durch den Kopf schwirren. „In der privaten Videoüberwachung spielt die Stadt eine Vorreiterrolle“, sagt Nils Leopold. Bei Neubauten seien entsprechende Anlagen fast Standard, weiß der Datenschutzexperte der Bürgerrechtsorganisation Humanistischen Union: „An manchen Stellen kann man von flächendeckender Überwachung sprechen.“ Kann man? Kommt man etwa von der Kochstraße nach Unter den Linden, ohne dass ein Wachmann uns auf den Hintern starren kann. Ein Versuch.

Den direkten Weg über die Friedrichstraße versperrt eine Kamera am Checkpoint-Charlie-Museum. Statt über die Zonengrenze glotzt sie bis auf die andere Straßenseite. Also ein Umweg über die parallele Charlottenstraße: im Zickzack laufen, um mehrere Kameras zu umgehen, die „nur“ auf einen Gehsteig schielen, wieder auf die Friedrichstraße, und hier das gleiche Spiel. Es ist anstrengend, man wird fast überfahren, aber es funktioniert – zunächst.

Am Quartier 205 hängt eine Kugelkamera. Garantierter 360-Grad-Rundum-Blick. Keine Chance. Der Sicherheitsdienst des Quartiers wird später angeben, die Linse sei allein auf den Eingangsbereich eingestellt, die Aufnahmen blieben aber bis zu vier Tagen gespeichert. „Das ist eindeutig zu viel“, sagt David Gill, Sprecher des Berliner Datenschutzbeauftragten. „Aufzeichnungen müssen spätestens nach ein bis zwei Tagen gelöscht werden“. Laut Gesetz darf zudem nur zur „Wahrnehmung berechtigter Interessen für konkret festgelegte Zwecke“ aufgezeichnet werden. Dazu ist eine detaillierte Sicherheitsanalyse nötig, die belegt, dass der beobachtete Raum anfällig etwa für Vandalismus oder Diebstahl ist. Der Betreiber des Quartiers, die Firma „Tishman Speyers“, will sich nicht dazu äußern, ob eine derartige Untersuchung vorliegt.

Wenn staatliche Datenschützer den Umgang von Firmen mit ihren Daten unter die Lupe nehmen, stoßen sie bei der Videoüberwachung regelmäßig auf Fehler: Kameras nehmen die ganze Straße ins Visier statt nur die Häuserfront, Daten werden zu lange gespeichert, die Rechtslage ist nicht bekannt.

Selbst bei öffentlich-rechtlichen Einrichtungen nicht. Zwei Blocks weiter, in der Charlottenstraße, hängen am Gebäude der staatlichen Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) zwei Kameras, aber nirgends eine Plakette, die Passanten auf die Überwachung hinweist. Im Datenschutzgesetz steht, dass „der Umstand der Beobachtung durch geeignete Maßnahmen erkennbar zu machen“ ist. Eine Sprecherin begründet die Nachlässigkeit damit, dass die großen Kameras gut sichtbar seien: Die KfW prüfe daher, zwei Jahre nach In-Kraft-Treten dieser Regelung, ob sie von ihr überhaupt betroffen ist. „Das reicht auf gar keinen Fall“, sagt David Gill. Um solchen Verstößen nachgehen zu können, ist der Datenschutzbeauftragte auf Hinweise aus der Bevölkerung angewiesen – seine Mitarbeiter könnten die unzähligen Privatkameras kaum noch kontrollieren. Allerdings laufen pro Monat nur ein bis zwei Beschwerden ein.

„Die Kameras befriedigen ein diffuses Sicherheitsbedürfnis, das in den letzten Jahren noch einmal stark gewachsen ist“, sagt Bürgerrechtler Nils Leopold. Kritische Stimmen wenden sich hauptsächlich gegen polizeiliche Überwachung. „Dahinter steckt das Bild vom starken Staat, der unbescholtene Bürger bespitzelt. Aber diese Gefechtslinie passt überhaupt nicht mehr zur heutigen Situation.“ Zwar hat der Senat eine gesetzliche Grundlage für die Überwachung „gefährdeter Objekte“ geschaffen, für eine polizeiliche Beobachtung fehlt aber bisher das Geld. Allerdings gehört die Weitergabe „sicherheitsrelevanter Informationen“ an die Polizei zu den Kernpunkten der 2002 geschlossenen Sicherheitspartnerschaft zwischen Polizei und dem Landesverband privater Sicherheitsunternehmen.

Deren Ausstattung ist weitaus üppiger. Jedes vierte Geschäft besitzt eine Videoanlage, schätzt Leon Hempel. Für die Technische Universität untersucht er im Rahmen der europäischen Studie „Urban Eye“ die Situation in Berlin. Und musste feststellen, dass in vielen Betrieben der Umgang mit der Überwachung weitgehend beliebig ist. „Ohne klare Regeln steigt jedoch die Gefahr des Missbrauchs.“

Auch als Anwalt beschäftigt sich Nils Leopold derzeit mit Videoüberwachung. Die High-Tech-Kameras am Kulturkaufhaus Dussmann erfassten bis vor kurzem alles, was sich im Umkreis von mehreren hundert Metern bewegte. Das flog auf, als Dussmann Aufnahmen eines Einbruchs in einem gegenüberliegenden Juweliergeschäft Unter den Linden präsentierte. Ein Journalist klagte gegen diese Form der Überwachung. Dussmann verteidigte sich: Die Firma müsse ihre Zentrale vor terroristischen Angriffen schützen. „Darf Dussmann Bin Laden jagen?“, fragt Leopold. „Eine Überwachung nach Belieben ist selbst der Polizei untersagt. Das hat erst recht für Private zu gelten, deren Treiben keinerlei demokratischer Kontrolle unterliegt.“

Inzwischen sind die Kameras teilweise abgeklebt und linsen noch auf die Bürgersteige. Leopold reicht das nicht. Er hofft, dass das morgen ergehende Urteil des Amtsgerichtes Dussmann zum Rückbau seiner Außenkameras zwingt. Andernfalls will Leopold bis zum Verfassungsgericht ziehen.

„Die zunehmenden Überwachungen beschneiden das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung und bauen einen Anpassungsdruck auf, den die höchsten Richter als Gefährdung des Persönlichkeitsrechts bezeichnet haben.“ Das war 1983 im Volkszählungsurteil. Dessen Tenor: „Jeder soll wissen, wer was und wann über ihn weiß.“ Lang ist’s her. Wer über die Friedrichstraße läuft, wird zwangsläufig ins Visier genommen.