Freie Stimmen für eine Bush-freie Welt

Initiativen wie die Democrats Abroad arbeiten eifrig daran, hier lebende US-Amerikaner für die Präsidentschaftswahl im November zu mobilisieren. Mit Erfolg: Die Wut auf George W. Bush und seine Administration hat viele Nichtwähler aufgerüttelt. Und manchmal hilft auch Hamburger-Grillen in Dahlem

VON ANDREA CRAWFORD

537. Das ist die Zahl der Stimmen, mit denen George W. Bush die Präsidentenwahl in Florida im Jahr 2000 vor Al Gore für sich entschied. 537 ist für Michael Steltzer von den Democrats Abroad daher ein Schlachtruf. „Wenn man sich vorstellt, dass diese Zahl die Wahl entschied, dann könnten wir die Wahl diesmal gleich hier in Berlin gewinnen“, sagt der Vizevorsitzende des Vereins hier lebender – und demokratisch gesinnter – US-Amerikaner.

Die Mobilisierung der John-Kerry-Unterstützer läuft: Erst am Wochenende grillten 50 Demokraten auf einem klassischen Labor-Day-Picnic in Dahlem Hamburger und entließen rot-blaue Luftballons in die Berliner Luft. Dass Steltzer und andere Aktivisten glauben, die magische 537 knacken zu können, zeigt sich vor allem in den Kinos, Kirchen und Bars der Stadt sowie auf Partys. Ob vor der Kennedy-Schule oder dem Sony Center, Amerikaner aller politischen Couleurs werben derzeit in Berlin für die Wählerregistrierung.

Zwar halfen die Berliner Organisationen sowohl der Demokraten als auch der Republikaner auch schon vor zurückliegenden Wahlen den Willigen, sich zu registrieren. Dennoch ist Pam Selwyn, die seit 22 Jahren als Übersetzerin in Berlin lebt, davon überzeugt, „dass dies die erste richtig breite Kampagne zur Wählerregistrierung ist“.

Selwyn arbeitet mit einer Reihe von Wahl-Organisationen zusammen, hauptsächlich aber mit American Voices Abroad (AVA). Diese parteiunabhängige Organisation ging im vergangenen Jahr aus den Protesten gegen den Krieg im Irak hervor. Außerdem engagiert sich Selwyn bei Vote44, einer von Deutschen geleiteten Organisation, die US-Wähler erreichen möchte.

Beide in Berlin gegründete Gruppen haben schon international Aufsehen erregt und sind Vorboten eines neuen, kritischen Trends in der amerikanisch-politischen Landschaft in Übersee, meinen sie selbst. Zusammen mit den Republicans Abroad, den Democrats Abroad und dem lokalen Komitee der Americans Overseas for Kerry (AOK) bilden sie eine nie da gewesene Entente, um US-Amerikaner in Berlin und andernorts zur Teilnahme an den US-Wahlen zu bewegen.

Mit Kerry/Edwards-Banner im Rücken und Flyern in den Händen stehen die Aktivisten seit Wochen abends am Potsdamer Platz. „Sind Sie Amerikaner? Sind Sie registrierte Wähler?“ oder „Kennen Sie US-Wähler, die noch nicht registriert sind?“, fragen sie die Passanten.

Einer der hartnäckigsten Aktivisten ist Dr. William Downey. Er gründete die Democrats Abroad bereits vor acht Jahren, nach seiner Pensionierung als Pfarrer der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg. Mittlerweile gehört die Gruppe zur Partei der Demokraten. Downey, der seit 1977 in Berlin lebt und seitdem per Briefwahl seine Stimme abgibt, findet, „dass in diesem Jahr alles ziemlich anders läuft“. Viel mehr Leute seien bereit, sich registrieren zu lassen. Bemerkenswert sei, dass auch Wähler, die seit vielen Jahren, sogar Jahrzehnten von ihrem Wahlrecht keinen Gebrauch mehr machen, diesmal dabei sein wollen. Der Grund für den wieder erwachten Bürgersinn ist der Ärger über die gegenwärtige US-Administration, glauben Beobachter.

Michael Steltzer ist so ein Wiedererwachter. 33 Jahre lang wählte er nicht – nun ist er ein Aktivist der Democrats Abroad, denen er sich vor einem Jahr anschloss. Auch seine erwachsenen Kinder, in Berlin geboren und aufgewachsen, werden zum ersten Mal in ihrem Leben an den US-Wahlen teilnehmen. Insbesondere für binationale Deutsch-Amerikaner ist das kompliziert. Nur 12 Bundesstaaten erlauben US-Bürgern ohne feste Adresse in den Staaten zu wählen.

Für Juan Diaz zum Beispiel ist es in erster Linie wichtig, den „Prozess transparent, fair und modern“ zu machen. Diaz ist Regionalkoordinator für die Americans Overseas for Kerry (AOK), einer von Diane Kerry, der Schwester des demokratischen Präsidentschaftskandidaten, gegründeten Organisation. Während der neun Jahre, die Diaz nun in Europa lebt, wählte er stets per Brief in seinem Heimatwahlkreis, dem Miami-Dade County in Florida – ausgerechnet einem der umstrittensten Kreise bei der 2000er Wahl. „Sollte George Bush wieder gewinnen, möchte ich sagen können, dass ich alles mir Mögliche getan habe, ihn aus dem Amt zu bringen.“

Das Entsetzen über den Krieg im Irak hat viele motiviert, endlich tätig zu werden. American Voices Abroad, kurz AVA, zum Beispiel, wurden von Kriegsgegnern im Februar 2003 gegründet. Colin King, Philosophieprofessor an der Humboldt-Universität, war von Anfang an dabei. Heute ist er Vorsitzender der AVA, die ab Juli vergangenen Jahres gemeinsam mit Verbündeten aus Prag und Paris tätig wurden. Mittlerweile ist AVA eine Koalition von Gruppen aus ganz Europa, mit Filialen in Beirut, Japan und Kanada – und allein 300 Mitgliedern in Deutschland.

„Wir spürten den Druck der Öffentlichkeit, die Ablehnung dieses Krieges und eine Ablehnung der USA in der transatlantischen Wertegemeinschaft“, erklärt King. Dies habe bewirkt, dass man sich einerseits stärker als US-Bürger fühlte als sonst, man aber andererseits demonstrieren wollte, dass nicht alle Amerikaner hinter dieser Administration stehen. Im Januar 2004 startete AVA mit seiner Initiative zur Wählerregistrierung, der „Get Out And Vote Action“ (GOAVA).

Eine produktive Unruhe kam mit dem Start des Kino-Kassenschlagers „Fahrenheit 9/11“ von Michael Moore auf. AVA nutzt seitdem die Popularität des Films, um sich vor Kinos zu postieren, in die der Politstreifen weiterhin zahlreich Publikum lockt. Ihre Landsleute wollen die AVA-Aktivisten mit zwei Fragen neugierig und engagiert machen: die Frage nach einem Präventivkrieg und dem Patriot Act, einer die amerikanischen Bürgerfreiheiten einschränkenden Gesetzgebung. „Diese zwei Entscheidungen der Administration waren ein deutlicher Bruch mit den Prinzipien der amerikanischen Außenpolitik und Verfassung“, sagt Colin King.

Tatsächlich begründen viele Unregistrierte ihren Entschluss, diesmal zu wählen, mit dem Schamgefühl, dass sie verspüren. „Da gibt es vieles, für das sich die USA entschuldigen müssten“, sagt Downey und meint die Erkenntnis, dass Washingtons Handeln eben Auswirkungen auf die Welt hat.

Einer, der sich engagiert, obwohl er gar kein Ami ist, ist Matt Lehitka. Er gründete letzten Herbst die Initiative Vote44 – so benannt, weil es am 2. November darum gehen wird, den 44. amerikanischen Präsidenten zu wählen. Vote44 warb bereits am Brandenburger Tor und in verschiedenen Mitte-Bars für die Registrierung. Ihr Info-Material, T-Shirts und Buttons, gibt es sogar im Tacheles in der Oranienburger Straße. Lehitka lebte einige Jahre in New York und hat dort noch viele Freunde. „Ich unterhielt mich im letzten Jahr mit so vielen, die fragten, ‚was kann ich bloß tun‘“, erzählt der junge Mann, „und ich sagte dann, okay, ich tu jetzt was.“ Im Oktober lässt Vote44 zwei 25-Sekunden-Spots in amerikanischen Kinos laufen, die US-Bürger dazu auffordern, wählen zu gehen.

Nicht jeder findet, dass das gewachsene Interesse am Wählen mit Protest zu tun hat. Henry Nickels, Vorsitzender der Republicans Abroad, zum Beispiel, erklärt es so, dass immer mehr Amerikaner im Ausland erkennen würden, dass die Wahlen sehr knapp ausgehen könnten. Deshalb wollten sie sich beteiligen. Seine Organisation zählt nur rund 40 Mitglieder, die Hälfte davon sind Deutsche, einige sogar Sozialdemokraten. Jan Burdinski zum Beispiel, SPD-Mitglied, Management-Berater und aktiv bei den Republicans. Er findet deren wirtschaftliche Kompetenz und ihr Wirken im Nahen Osten beeindruckend. „Und den Irakkrieg sehe ich als Teil einer größeren Lösung in der Region.“

Andrea Crawford, 35, arbeitet als freie Journalistin in New York und hat derzeit ein Gaststipendium in der taz.