Hurra, wir leben doch!

Die Zeit des Defätismus ist vorbei: Deutschland bewegt sich. Denn auch die schönste Depression langweilt irgendwann – da kommt die sozialdemokratische Beschäftigungstherapie gerade recht

VON MARTIN REICHERT

Spätestens seit der Wahl im Saarland gilt es als ausgemacht, dass die Bundesrepublik Deutschland bei der nächsten Bundestagswahl an ihre Eigentümer zurückgegeben wird, nämlich an die Union und ihre Konsorten: zwölf Jahre Angela Merkel als Kanzlerin, Guido Westerwelle als Außenminister und womöglich Roland Koch als Innenminister. Mindestens zwölf Jahre. Defätismus hat sich breit gemacht im „linken Lager“, ach, es hat ja alles keinen Zweck und, huch, Angela kommt, und dann wird alles noch schlimmer, noch viel, viel schlimmer!

Dabei ist es gar nicht schlimm, jedenfalls nicht so schlimm, wie es einem die gut ausgebildeten, gut verdienenden Angehörigen der so genannten Mittelschicht, von notorischer Statusunsicherheit getrieben und eingekeilt zwischen Abstiegsängsten und Sozialneid nach oben und unten, weismachen wollen: Mein Gott, jetzt müssen wir unser Sushi schon bei Aldi kaufen, so schlimm ist es geworden: „Uns nimmt man alles weg!“ In Wahrheit sind sie nur eines: beleidigt, dass sie ausnahmsweise mal nicht an der Macht sind.

Spätsommer-Bonus-Track

Mit Hartz IV haben sie gar nichts am Hut, stattdessen shoppen sie dermaßen, dass regelmäßig der Zentralrechner der Deutschen Bank streikt, wie zuletzt am Samstag: Zu viele Kunden auf einmal wollten mit EC-Karte bezahlen. Und erst gestern meldete Escada, Deutschlands größer Damenmodekonzern und Hauptausstatter der angeblich von Verarmung bedrohten Mittelstandseliten, wieder schwarze Zahlen.

Sogar die gesamte Produktion in Deutschland ist im Juli um 1,6 Prozent gegenüber dem Vormonat gestiegen, die Industrieproduktion sogar um 1,8 Prozent, im Juni war noch ein Rückgang verzeichnet worden. Finanzminister Hans Eichel hat verkündet: „Wir sind in der konjunkturellen Wende. Wir werden dieses Jahr irgendwo zwischen 1,5 und 2 Prozent Wachstum haben. Das sagen alle Prognosen.“

So wird es sein, denn es ist Bewegung gekommen ins Land, nicht zuletzt, weil auch die schönste Depression irgendwann langweilig wird. Gegen depressive Zustände helfen Tageslicht und aktives Handeln, da trifft es sich gut, dass Depri-Deutschland gerade einen Spätsommer-Bonus-Track bekommen hat, die Glückshormone fließen wieder und treiben die Langzeitarbeitslosen aus dem Mustopf: So verzeichnen Zeitarbeitsfirmen bereits seit Juni einen regen Zuwachs an Bewerbern. Der Geschäftsführer der Düsseldorfer Zeitarbeitsfirma A-Plus berichtet: „Im Moment kommen alle aus ihren Höhlen raus. Bei mir klingelt ständig das Telefon. Das hatten wir sonst nicht.“

Auch wenn die angestiegene Nachfrage bislang noch kein gesteigertes Angebot nach sich gezogen hat – Henkel hat gar nicht genug Jobs, die er vermitteln könnte –, belegt sie doch ein Umdenken: Die Aussicht auf Arbeitslosengeld II zwingt verunsicherte, oft in ihrem Selbstvertrauen beschädigte Langzeitarbeitslose zum Handeln. Warum es nicht mal bei einer Zeitarbeitsfirma versuchen, vielleicht werde ich ja übernommen? Warum nicht eine Ich-AG gründen, einen eigenen Laden eröffnen? Oder sich als potenzieller Selbstständiger wenigstens mal eine Visitenkarte drucken lassen?

Fleißige Erntehelfer

Eine Flucht in die Arbeit tut Not, raus aus der Depression, raus aus den Selbstzweifeln: Viele Arbeitslose zeigen sich bereits jetzt bereit, niedriger bezahlte Jobs oder solche, die unter ihrer Qualifikation liegen, anzunehmen. Der Einzelhandel und der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband verzeichnen deutlich mehr Bewerber: „Das zeigt, dass Hartz IV wirkt und die Menschen ihr Schicksal wieder verstärkt in die eigene Hand nehmen“, sagt Hubertus Pellengahr, Sprecher des Hauptverbandes des deutschen Einzelhandels. Sogar in der Landwirtschaft arbeiten wieder Deutsche, ein Feld, das man bislang lieber den Polen überlassen hatte. Der Deutsche Bauernverband registriert ein größeres Interesse an Erntehelferjobs, laut der Arbeitsagentur im brandenburgischen Eberswalde gibt es in diesem Jahr ein Drittel mehr Bewerber als im Vorjahr.

Die Menschen haben erkannt, dass es im Falle von Hartz IV töricht wäre, sich nicht in das Unabänderliche zu fügen, auch die dieswöchigen Montagsdemonstrationen waren erneut weniger gut besucht. Im sächsischen Zwickau, wo vor einer Woche noch 4.000 Demonstranten auf der Straße waren, zählte die Polizei dieses Mal kümmerliche 40 Teilnehmer. Nun wollen auch die Gewerkschaften auf die SPD zugehen: Gestern trafen sich deren Spitzen mit Bundeskanzler Schröder und SPD-Chef Franz Müntefering zwecks Klimaverbesserung.

So wenig das Land in sozialen Unruhen versinkt, so wenig ist bislang die SPD implodiert: Ja, es waren nur 30,8 Prozent im Saarland, aber eben auch nicht 10 oder 5 Prozent. Zudem war die Wahlbeteiligung mit 55 Prozent so niedrig wie noch nie bei einer Landtagswahl in Westdeutschland. Vor lauter Depressionen haben die Bürger es einfach nicht zur Wahlurne geschafft und sich stattdessen im Bett liegend ihren Albträumen hingegeben: Angela kommt, und dann wird alles noch viel schlimmer.