„Die Türkei muss ein Pfeiler der EU-Verteidigungspolitik werden“

Bronisław Geremek will, dass Brüssel 2005 Verhandlungen mit Ankara aufnimmt. Größe und Armut des Landes seien keine Gefahr für den Zusammenhalt der Union

taz: Herr Geremek, wenn man den Bericht Ihrer Kommission zur Lage in der Türkei zusammenfassen wollte, könnte man sagen: Wir müssen Beitrittsverhandlungen mit Ankara aufnehmen, weil wir es versprochen haben.

Bronisław Geremek: Man muss diese Sache als Realist und als Visionär sehen: Die Wiege des christlichen Europa liegt auf dem Gebiet der heutigen Türkei. Die Türkei ist aus der europäischen Geschichte nicht wegzudenken. Natürlich hat Europa christliche Wurzeln. Aber das bedeutet nicht, dass die EU immer ein christlicher Club bleiben muss.

Erfüllt die Türkei die 1993 festgelegten EU-Voraussetzungen wie Rechtsstaatlichkeit, Minderheitenschutz, Wahrung der Menschenrechte?

Wir können sagen, dass die Türkei in den letzten Jahren eine stille Revolution durchlaufen hat. Die Anstrengungen, europäische Maßstäbe in der Gesetzgebung einzuführen, waren enorm. Die Türkei von heute ist fast ein anderes Land.

Kann die EU ein so großes Land wie die Türkei überhaupt verkraften?

Wir haben in unserem Bericht gefragt, ob die Bevölkerungsentwicklung eine Bedrohung für die EU darstellt. Wir meinen, dass die demografische Entwicklung sich verlangsamt; ein Phänomen, das in allen Staaten zu beobachten ist, in denen der Wohlstand wächst. Außerdem wollen wir zeigen, dass in den EU-Institutionen die Größe eines Landes eine untergeordnete Rolle spielt. Deutschland ist derzeit das größte Land in der EU. Weder unter dem geltenden Vertrag von Nizza noch unter der neuen Verfassung könnte es den anderen Ländern seinen Willen aufdrücken.

Die Öffentlichkeit will wissen, was die Erweiterung bis zum Schwarzen Meer kosten würde.

In der Finanzperiode bis 2013 werden wir nach anderen Regeln wirtschaften müssen, um die reichen Länder nicht zu stark zu belasten. Die Geberländer haben ja bereits verlangt, die Zuwendungen zum EU-Budget zu begrenzen. Außerdem wird sich die Struktur der türkischen Wirtschaft grundlegend ändern. Und zum Dritten glaube ich, dass Solidarität mit ärmeren Nachbarn zum Kern der EU gehört.

Glauben Sie, dass die Aufbruchstimmung in der Türkei Verhandlungen überleben wird, die wohl zehn Jahre dauern werden?

Gerade die Polen kennen den Preis, den man für lange Verhandlungen bezahlt. Das lässt die Bürokratie erlahmen, führt aber auch zu einer Ernüchterung in der öffentlichen Meinung. 1981 wurde ich hier im Europaparlament als der polnische Dissident herumgereicht, der Repräsentant der polnischen Freiheitsbewegung. 23 Jahre dauert nun unser Annäherungsprozess. Sie können mir natürlich entgegenhalten, dass die Wartezeit der Türkei schon seit 1964 dauert, doppelt so lange. Aber unsere Geschichte ist anders. Wir nahmen den Faden wieder auf, der 1945 in Jalta zerschnitten worden war. Das Gefühl der Zurückweisung wird es in der Türkei nicht geben – im Gegenteil. Wenn aber die Verhandlungen nicht zum 1. Januar 2005 beginnen würden, wäre die Botschaft klar: Der Westen will kein islamisches Land in seinem Bündnis haben.

Anfang Juli hat Ihre Kommission die Türkei bereist. Welche Erkenntnisse haben Sie gewonnen?

Am meisten haben uns Gespräche mit kurdischen Politikern beeindruckt. Wir dachten, der Konflikt zwischen Kurden und Türken sei unüberbrückbar. Es ist aber festzustellen, dass gerade die Kurden enorme Hoffnungen in den EU-Beitritt setzen.

Wäre Ihr Bericht vor dem 11. September 2001 genauso ausgefallen wie heute?

In Polen hat die Sicherheitsfrage immer breiten Raum eingenommen. Wir haben die Angewohnheit, uns jeden Morgen zu fragen: Ist unser Land überhaupt noch da? Für uns liegt das türkische Potenzial in allen Sicherheitsfragen und bei der EU-Außenpolitik auf der Hand. Wenn sich die Union eines Tages tatsächlich eine tragfähige Verteidigungsstruktur zulegen wird, dann muss die Türkei ein tragender Pfeiler dieser Struktur sein. Wenn wir es schaffen, mit den Türken friedlich in einer Union zusammenzuleben, können wir der ganzen Welt ein Beispiel dafür geben, wie erfolgreich die europäische Methode funktioniert. INTERVIEW:
DANIELA WEINGÄRTNER