Göttinger Tempi

Abfahrt ist um 13.55 Uhr von Gleis sieben, Hauptbahnhof Göttingen. Man kann auch um 15.53 Uhr in Kassel zusteigen. Oder wieder um 17.32 Uhr in Göttingen. In jedem Fall erwartet die Reisenden eine mit Kameras und Mikros ausstaffierte Bahn, deren Geräusche collagiert ins Innere übertragen werden. Ein „Präparierter Zug“ eben, in dem ebenfalls mitreisende Musiker zu mannigfaltigen Improvisationen anheben – die Spur führt folgerichtig John Cage. Dessen Il treno wird am Sonntag erstmals nach der Uraufführung von 1978 wieder zu erleben sein.

Denn: Göttingen betritt die Landkarte der Neuen Musik. Zumindest für sechs Tage, zählbar ab heute. Als „Experiment Geschwindigkeit“ gibt es zwölf ambitionierte Veranstaltungen, die der Faszination nachspüren, den der Rausch der Geschwindigkeit auf die Künste ausübt. Mit einer Nadolny-Lesung (Entdeckung der Langsamkeit) ist auch die Gegenposition vertreten.

„Experiment Geschwindigkeit“ ist auch ein Experiment Publikum. „Ein Großteil der Karten ist noch völlig unabgerufen“, sagt Elisabeth Quast vom Organisationsbüro. Und wenn das Göttinger Symphonie Orchester seinen Beitrag „Rollende Räder – rasende Klänge“ (unter anderem mit Honeggers Pacific 231) nicht in die Abo-Reihe aufgenommen hätte, sähe es vermutlich noch mauer aus. Göttingen ist eben Neue Musik-Neuland, und „Experiment Geschwindigkeit“ bleibt vermutlich ein „Solitär-Festival“, wie Quast formuliert.

Den Löwenanteil des 185.000 Euro-Etats tragen Sponsoren, die Stadt selbst beteiligt sich lediglich mit einer Ausfallbürgschaft von 2.000 Euro. Das finanzielle Hauptrisiko liegt bei Festival-Initiator Nils König, der sich ansonsten – als Chemiker an den „Forstlichen Versuchsanstalten“ – mit dem Waldsterben beschäftigt. Seit sich König auch dessen Pendant in der Kultur widmet und mit der Aktion „KunSt – Kultur unterstützt Stadt“ bereits die Rücknahme einer 100.000 Mark-Kürzung im kommunalen Haushalt erreichte, ist er als Kulturaktivist bekannt.

Nun hat ihn die Idee fasziniert, die beeindruckende Eisenarchitektur der 80 Jahre alten Göttinger Lokhalle mit einer eigens komponierten Raummusik zu kombinieren. Daniel Ott, von dem die Musik für den Schweizer Expo-Pavillon stammt, hat sich darauf eingelassen und ein Werk für 23 mobile MusikerInnen geschrieben, die auch Stahlträger und Bodenelemente zum Klingen bringen sollen. Die Uraufführung findet am Samstag statt.

Den Auftakt bestreitet Egon Hoegen. Mit seiner ARD-Mahnsendung „Der 7. Sinn“ hat er Verkehrserziehungsgeschichte geschrieben – heute Abend fällt ihm die ungleich schwierigere Aufgabe zu, mit der Lesung „Versverkehr“ den Göttingern das neue Festival schmackhaft zu machen. Henning Bleyl

Karten: ☎ (0551) 999 58 49 und www.experiment-geschwindigkeit.de