„Der Staat verhindert Arbeitsplätze“, sagt Andreas Thiel

Arbeitslose brauchen Zeit, Geld und ein Team – um Marktnischen zu entdecken, statt in Ein-Euro-Jobs zu wurschteln

taz: Herr Thiel, Sie wurden schon vor zwanzig Jahren arbeitslos und haben seitdem in einem Beschäftigungsprojekt in Bielefeld gearbeitet. Was würden Sie als Arbeitsmarktexperte „von unten“ Wirtschaftsminister Clement raten?

Andreas Thiel: Beim Thema „Fördern“ mehr Fantasie zu entwickeln, als einfach nur Ein-Euro-Jobs zu kreieren. Dabei haben wir Arbeitslose, davon kann jeder Betrieb nur träumen.

Wieso?

Noch nie waren die Erwerbslosen so gut qualifiziert – inzwischen entlässt ja sogar die Deutsche Bank.

Wenn selbst Global Player ihr Fachpersonal nicht mehr brauchen, was wollen Sie dann mit ihnen anstellen?

Arbeitslosigkeit kann auch eine Chance sein. Der Staat muss die Leute so fördern, dass sie neue Marktnischen entwickeln. Das war auch die Idee der Projekte in Bielefeld. In den 80er-Jahren hat uns die Stadt Investitionsmittel von 30.000 Mark gegeben und gesagt: „Macht was damit.“

Und was haben Sie gemacht?

Mein Projekt hat zum Beispiel die Idee entwickelt, Wein- und Sektflaschen zu recyclen. Bekanntlich sind Mehrwegflaschen deutlich ökologischer als Scherbenrecycling. Insgesamt haben wir etwa 30 Millionen Einweg-Weinflaschen zu Mehrwegflaschen gemacht.

Davon konnten Sie leben?

Nein, natürlich nicht. Die Stadt hat die Lohnkosten übernommen. Aber nach drei Jahren haben wir ein Drittel des Personals und alle Sachkosten selbst erwirtschaftet. Das Projekt hat bald mehr Steuern und Sozialversicherung gezahlt, als es an Personalkostenzuschüssen bekam.

Und wie viel verdiente man dort?

Gezahlt wurde richtiger Tariflohn, die Eingangsstufe vom Entsorgertarif. Also zwischen 1.600 und 2.000 Mark netto, je nach Familienstand.

So viel kriegt man heute auch mit einem Ein-bis-Zwei-Euro-Job, wenn man das Arbeitslosengeld II und die Unterkunftskosten dazuzählt.

Eben. Es würde gar nicht teurer, die Leute in Marktnischen experimentieren zu lassen. Im Gegenteil: Die Leute würden zumindest einen Teil ihrer Kosten wieder reinholen.

Wenn Sie erfolgreich sind …

… das waren wir. Am Ende wurde unser Projekt sogar von einer Privatfirma aufgekauft.

Und wie viele Leute arbeiten jetzt noch dort?

O.k., früher waren wir zehn. Jetzt sind es nur noch drei.

Das klingt wie die klassische Falle des ersten Arbeitsmarktes: Wer ohne staatliche Zuschüsse wirklich konkurrenzfähig sein will, der muss rationalisieren.

Aber jetzt gibt es immerhin drei Arbeitsplätze, die vorher nicht existierten. Außerdem macht der Private es schlechter, durch seine Technik gehen mehr Flaschen zu Bruch und er sammelt auch weniger ein. Vor allem aber: Es ist doch Quatsch zu glauben, dass der erste Arbeitsmarkt nichts mit dem Staat zu tun hat. Beim Recycling von Sekt- und Weinflaschen kann man sogar sagen, dass der Staat Arbeitsplätze verhindert!

Wie denn?

Die Dänen zum Beispiel haben ein gut funktionierendes Recyclingsystem. Ganz kommerziell, mit relativ großen Sortieranlagen für Wein- und Sektflaschen. Wir waren ja nur ein Modellprojekt; würde man in ganz Deutschland Sekt-und Weinflaschen recyclen, dann würden mindestens tausend Arbeitsplätze entstehen. Aber alle Themen, die auch nur entfernt an das Dosenpfand erinnern, sind hier ja vermintes Gebiet.

Aber ist Ihr Vorschlag an den Wirtschaftsminister wirklich so neu? Es gibt doch schon die Ich-AGs.

Ja, aber mit zwei wesentlichen Unterschieden. Erstens kann man nicht im Team arbeiten. Die Ich-AG, das sagt ja schon der Name, ist als Ein-Mann-Betrieb gedacht – vielleicht noch mit irgendeinem Familienmitglied zur Seite. Und zweitens, das ist noch wichtiger, ist die Förderung viel zu kurz. Eigentlich müssen die Leute sofort Gewinn machen, sonst gehen sie wieder Pleite. Es wird ihnen gar nicht die Chance gegeben, Neues erst mal zu erkunden. Man muss in längeren Zeiträumen von drei bis fünf Jahren denken.

Wird das nicht ein bisschen teuer für den Staat?

Die Wohlfahrtsverbände sagen doch das Gleiche bei den Ein-Euro-Jobs: Eigentlich können sie mit Leuten nicht viel anfangen, die nur ein halbes Jahr da sind. So entstehen nur Beschäftigungsprojekte, wo es nicht darauf ankommt, was hinten rauskommt. Das ist keine Arbeit.

Nun, da Ihr kleiner Bielefelder Recyclingbetrieb verkauft ist, was machen Sie jetzt eigentlich?

Seit einer Woche bin ich selbstständig. Ich handle jetzt mit gebrauchten Kartons.

Das rentiert sich?

Sonst hätte ich da nicht privates Geld investiert. Es ist ein Spezialmarkt, auf dem man Geld verdienen kann.

Und darüber reden Sie so offen? Da könnten doch Nachahmer auf die Idee kommen, es auch mal mit Kartons zu versuchen.

So schnell geht das nicht. Ich habe mir einen Basisvertrieb aufgebaut, die Kunden aufgesucht, den Markt persönlich erschlossen. Da stecken dreijährige Erfahrungen aus dem alten Projekt drin.

INTERVIEW: ULRIKE HERRMANN