: Freundschaft ist auch nur Schmelzkäse
Und Kunst kann keine Kinder retten: Elena Kovylinas Performance „Die Vorstellung“ lässt im Rahmen der Festwochen russische Straßenkinder und das Publikum an Klebstoff schnüffeln und forscht nach der Erfindung der Wirklichkeit
Einmal ist sie auf einem Esel geritten, rückwärts, mit dem Gesicht zum Schwanz des Tieres. So wurden in Armenien die Bräute, die sich in der Hochzeitsnacht als nicht mehr jungfräulich erwiesen, in ihre Dörfer zurückgeschickt. Auf dieses Ritual bezog sich Elena Kovylina in ihrer Performance, die während einer Reise mit anderen Künstlern durch Armenien entstanden ist. Überall, wo sie eingeladen waren, erzählt die russische Künstlerin am Frühstückstisch in ihrer Wohnung in Berlin, saßen die Männer mit den Gästen am Tisch, während die Frauen in der Küche blieben.
Wunderbare Fotos sind entstanden von diesem Eselsritt durch eine karge Landschaft und steinige Dorfstraßen. Sie zeigt sie, einmontiert in die Titelseiten der russischen Ausgaben von Marie Claire und Vogue. Einen Moment lang bin ich irritiert. Hat es diese Cover wirklich gegeben? Elena Kovylina schweigt ein bisschen und lächelt, bis ich verstehe, dass diese Collagen Teil des Spiels sind. Ist es nun Wirklichkeit oder Inszenierung?
Diese Frage rumort auch im Hintergrund ihres Projekts „Die Vorstellung“, uraufgeführt im Rahmen der Festwochen. Vier Jugendliche, die sie unter den Straßenkindern und Obdachlosen am Moskauer Bahnhof kennen gelernt hat, sind mit ihr nach Berlin gekommen und erzählen in einem kleinen Probenraum im Haus der Festspiele von ihrem Leben. Auf den Stühlen liegen für die Besucher Plastiktütchen mit Klebstoff bereit, um sich einweihen zu lassen in die Technik des Schnüffelns.
Die vier mokieren sich über den Leichtsinn der Berliner, wie ungesichert die überall ihre Fahrräder stehen lassen. Sie erzählen, woran man gute Opfer erkennt. Sie versuchen russische Puppen und Löffel zu verkaufen, wohl wissend, dass niemand so etwas braucht, aber sie brauchen Geld. Auch ein russischer Schmelzkäse mit dem Namen „Freundschaft“ spielt eine Rolle, den nicht zu kaufen ernsthafte Konsequenzen haben kann. „Wie sollen wir Freundschaft schließen, wenn Sie Geld haben und ich habe keins?“
Das alles ist bedrückend, oft vorhersehbar und ein wenig langweilig, wie das lange Warten auf dem Bahnhof. Sie beschimpfen die Regierung, ihre Eltern, die Kinderheime. Sie pochen auf ihren Opferstatus und beschimpfen sich gegenseitig. Sie beklagen die Härte ihres Lebens und pochen auf die Freiheit ihrer Entscheidung, nicht im Heim oder bei den Eltern zu leben. Sie wollen kein Mitleid. Sie wollen Anerkennung und Geld. Und sagen am Ende: „Wir sind gar nicht vorhanden. Eigentlich gibt es uns nur auf dem Bahnhof. Obdachlose ohne Papiere, die nicht über die Grenze können. Dies hier ist ein Betrug.“
Das Publikum reagiert betroffen. Ist das nicht zynisch, meinen sie, diese Menschen vorzuführen? Aber sie spielen doch nach ihren Regeln, verteidigt sich Elena Kovylina. Sie vergleicht das Leben auf dem Bahnhof mit der Kunst der Performance: die Konzentration, das Risiko, die Notwendigkeit, sich vor dem jeweiligen Zuschauer neu zu erschaffen. Wahrheit, Authentizität, Wirklichkeit – das wird zu unüberprüfbaren Größen in diesem Spiel. Das hat sie am Ende an dieser Arbeit interessiert.
Am Anfang aber stand ein anderes Ziel, die Frage nach der ethischen Verantwortung der Kunst und ihrer sozialen Utopien. Kovylina wollte Wohltätigkeit, die in Russland seit der Demontage der sozialen Sicherungssysteme wieder eine so große Rolle spielt wie im 19. Jh., mit Formen der künstlerischen Performance verbinden.
Sie gab das Geld eines Stipendiums für wohltätige Projekte aus – Konzerte in einem Altersheim, Wäschekauf für ein Krankenhaus –, bei denen die Protagonistinnen stets wie kommunistische Operettenkrankenschwestern in ein hübsches Rot gekleidet waren. Wieder entstanden sehr schöne Fotos.
Aber zufrieden war Elena Kovylina nicht. „Bald habe ich gemerkt, das funktioniert nicht. Kunst kann keine sozialen Ziele verwirklichen, keine Kinder retten. Wohl aber nach deren Regeln ein Projekt entwickeln.“ Das versucht sie in der „Vorstellung“. Doch wieder gleicht ihr Projekt einer Versuchsanordnung, der die Enttäuschung schon als Erkenntnis einprogrammiert scheint. „Man kann in diesem Kontext keine Kunst machen.“ Letztlich ist „Die Vorstellung“ ein Abschied von romantischen „Vorstellungen“, die sowohl die Freiheit des Künstlers wie auch die der Subkultur der Straßenkinder betreffen.
Ihr ist bewusst, dass ihre Strategien zurückgehen auf Konzepte der Aktionskunst und Performance, wie sie in den Sechzigerjahren begannen. Aber im Kontext der neuen Verhältnisse in Russland scheinen das die richtigen Instrumente, um einem Gewebe aus Klischees, aus alten Mythen und neuen Bildern der Massenmedien zu begegnen, das sich über jede Wahrnehmung der Wirklichkeit legt.
KATRIN BETTINA MÜLLER
„Die Vorstellung“, bis 4. Oktober, 20 Uhr, Haus der Berliner Festspiele, Schaperstr. 24, Wilmersdorf