Bananen und Kiwis wachsen im Mund

Wenn Hölle und Paradies nicht mehr zu unterscheiden sind, befindet man sich im Theater: bei Christoph Marthaler, der mit „Das Goldene Zeitalter“ einen wundersam stimmigen Abgesang auf seine Züricher Zeit in Szene gesetzt hat. Und einmal tanzt der Schauspielchef wie ein befreiter Faun in die Zukunft

von JÜRGEN BERGER

Stellen Sie sich vor, Sie wandelten im Paradies, hätten aber das Gefühl, im Fegefeuer zu schmoren. Da stehen Sie in einem Pulk durchschnittlicher Menschen, die von hochfahrenden Träumen, Liebeswehen und sonstigen Blähungen geplagt werden. Ein blinder Führer sagt „Ladies and Gentleman, follow me“. Irgendwann kommen Sie in eine riesige Halle und meinen, vielleicht doch im Ballsaal eines Luxushotels gelandet zu sein. Dann allerdings gehen Sie eine Relingleiter hoch, treten auf ein Vordeck, und plötzlich wird Ihnen klar: Das hier ist das Paradies – dummerweise aber auch die gerade sinkende „Titanic“. Kurz bevor auch Ihr Kopf im gurgelnden Wasser verschwinden wird, begreifen Sie, warum der paradiesische Luxusliner untergehen muss: Hier flossen Milch und Honig so ausgiebig, dass Passagiere und Mannschaft sich in Utopien verloren und Eisberge zwangsläufig übersahen.

Der Luxusliner, den man für das Paradies halten kann, steht jenseits von Zürich und am Anfang eines Abschieds. Ende der Spielzeit schmeißt Christoph Marthaler das eidgenössische Handtuch als Intendant. Bis dahin allerdings krempelt er als Regisseur die Welt an der Limmat noch einmal um – wie jener Käpt’n Kuhlmann, ein bösartiger General aus Germanien, der einen Damm um Europa bauen, das Mittelmeer sowie die Nordsee in den Atlantik spritzen und die USA so überfluten will. Das ist eines der titanischen Projekte, die in Marthalers Goldenem Zeitalter vorkommen und in dem glückliche Zeitgenossen gedeihen, denen Bananen und Kiwis in den Mund wachsen. „Das Goldene Zeitalter“ heißt nicht nur so, sondern ist auch Ausdruck von Erleichterung: ein wundersam stimmiger Abgesang auf die kurze Züricher Zeit, in der die Eidgenossen ihren verlorenen Sohn ob seiner Langsamkeits-Exerzitien zwar lieben lernten, ihm aber trotzdem nie verziehen, dass er kein Manager ist.

Marthaler selbst dürfte schon vor einiger Zeit klar geworden sein, dass er nicht gleichzeitig Künstler und Kaufmann sein kann. Also erinnert er sich nun an die Vorzüge des unbeschwerten Künstlertums abseits jeglicher Intendanten-Niederung. Mit von der Partie sind seine Kodirektorinnen Stefanie Carp und Anna Viebrock. Carp hat Utopie-Texte zusammengestellt, die mal von Hesiod und Aristophanes, mal von Paul Scheerbart oder Rolf Dieter Brinkmann stammen. Viebrock lässt die riesige Schiffbauhalle weitgehend frei. Unten bewegt sich eine mit Wrackteilen gefüllte Lore auf Schienen. Rechts erhebt sich ein Oberdeck, unter dem der unentbehrliche Flügel für Mathias Weibel steht, auf dass er Schauspieler und Tänzer unterfüttere, wenn sie zu einem paradiesisch-verzweifelten Untergangschor werden.

Als Koregisseure genannt sind auch Meg Stuart und Stefan Pucher, was wohl damit zu tun hat, dass der Auftakt eines langen Abschieds auch eine Gemeinschaftsarbeit der Künstler sein soll, die das Züricher Marthaler-Theater prägten. Die Geschichte mit der Koregie ist allerdings nur im Falle Meg Stuarts nachvollziehbar. Sie lässt Schauspieler und Tänzer schlängeln und zucken, als könne der Körper mehr als jeder Text erzählen. Warum Pucher genannt wird, bleibt unerfindlich.

Ansonsten hat man es mit einem typischen Marthaler-Abend und mit Graham F. Valentine zu tun: Er ist der blinde Fremdenführer und Zeremonienmeister, bearbeitet mit dem Blindenstock gelegentlich die Saiten des Flügels, als sei er im Nebenberuf John Cage. Dann wieder steht er wie Gott am Tor, inspiziert vor allem die Frauen ausgiebig und schickt die Schlechten ins Kröpfchen „Fegefeuer“, die Guten ins Töpfchen „Paradies“. Robert Hunger-Bühler ist einer der spießigsten Paradiesvögel. Einmal exekutiert er gemeinsam mit Ueli Jäggi nebenbei einen Perpetuum-Mobile-Dialog Paul Scheerbarts, bevor sich die beiden die Relingleiter hinunterwinden, als hätten sie sich in Stan und Ollie verwandelt.

Alle zusammen sind einmal mehr wehmutsvolle Sänger, die loslegen, sobald das hervorragende Streichquartett von Monika Baer, Mathias Weibel, Renate Steinmann und Martin Zeller sich irgendwo in der Halle niederlassen und ein Haydn-Quartett spielen. Ganz am Ende steht eine Zeile aus „Die sieben letzten Worte unseres Erlösers“ für Chor und Streichquartett. Aus „Es ist vollbracht“ wird „Es ist voll“, „Es ist kraftvoll“, „Es ist brechend voll“ – eine selbstironische Wendung gegen Ende einer Intendanz, die künstlerisch überaus ergiebig, in puncto Zuschauerzahlen gelegentlich aber etwas flau war.

Man verlässt die Schiffbauhalle und fragt sich, ob Marthaler jemals wieder einen Raum finden wird, der so gut zu seinem Theater passt. In Erinnerung bleiben wird das Bild, das irgendwann auf der gesamten Breite der Rückwand flimmerte. Da tanzte der Schauspielchef, der wohl nie ein richtiger Chef sein wollte, hüpfend wie ein befreiter Faun in die Zukunft.