Was Kinderköpfe brauchen

Über Bildungsprozesse im Vorschulalter gibt es nicht erst seit „PISA“ viele Erkenntnisse, die unter Wissenschaftlern unumstritten sind, aber weder bei Eltern noch bei den Sozialpolitikern, die über die Ausstattung der Kitas entscheiden, angekommen sind

„75 Prozent der Leistungsunterschiede der Achtjährigen können durch die Erhebungen im vierten Lebensjahr vorhergesagt werden“

Die Wissenschaft über die Bildungsprozesse im kindlichen Alter können sich seit dem „Pisa-Schock“ großer Aufmerksamkeit gewiss sein. In dieser Woche tagte an der Uni Bremen ein Kongress über Grundschulpädagogik – inzwischen sind Pressekonferenzen für solche früher eher internen Veranstaltungen an der Tagesordnung. Die Braunschweiger Wissenschaftlerin Claudia Osburg trug da die heute anerkannte Position vor, dass die Grundschule „viel zu spät“ einsetzt, Bildungsprozesse systematisch und bewusst zuorganisieren.

Wer Probleme beim Schriftspracherwerb hat, für den „ist der Zug in der ersten und zweiten Klasse abgefahren“, sagt sie – die Defizite verstärken sich gegenseitig, nur wenige haben die Chance, Entwicklungsrückstände später aufzuholen. Reitschule gibt es vor dem 6. Lebensjahr, auch Musikschule mit ihren komplexen Anforderungen – warum nicht eine Leseschule? Bei Taubstummen sei es selbstverständlich, dass sie mit zwei oder drei Jahren Lesen lernen sollten, weil das ihrer Verständigung dient. Auch die Schlussfolgerungen aus solchen Erkenntnissen sind bekannt: Die homogenisierende Unterrichtung in den ersten Klassen der Grundschule ist Gift, Kinder sollten jahrgangsübergreifend gefördert werden und flexibel je nach individuellem Lernfortschritt mit neuen Reizen und Anforderungen konfrontiert werden.

Auf einer Veranstaltung der Initiative „Weitblick“ (www.weitblick-bremen.de) hat die Bremer Sozialwissenschaftlerin Annelie Keil einen Versuch unternommen, den Bildungsbegriff für das Kita-Alter zu definieren: „Nicht das Gehirn denkt, fühlt und handelt, sondern der ganze kleine Mensch.“ „Kindergehirne sind weitaus formbarer (und verformbarer) als bisher angenommen“, fasste sie die Erkenntnisse der Neurobiologie zusammen. „Jede Begegnung mit dem kleinen Menschen, jede Berührung, jede Interaktion ist ein Angebot an das kindliche Gehirn und wird von diesem auch aufgenommen.“ Kinder sollten daher „möglichst viele und möglichst unterschiedliche eigene Erfahrungen machen. Dazu brauchen sie vielfältige stimulierende (ihre emotionalen Zentren aktivierende) Angebote und Herausforderungen und – um diese annehmen und erfolgreich bewältigen zu können – Sicherheit und Orientierung bietende Bindungsbeziehungen.“ Und wie viel Betreuungspersonal braucht eine Kindergruppe? „Nur unter dem einfühlsamen Schutz und der kompetenten Anleitung durch erwachsene ‘Vorbilder‘ können Kinder vielfältige Gestaltungsangebote auch kreativ nutzen und dabei ihre eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten erkennen und weiterentwickeln“, erklärte Annelie Keil. Nicht passiver Medienkonsum und Überflutung mit Reizen, sondern die Gelegenheit, „sich aktiv an der Gestaltung der Welt zu beteiligen“ und „Freiräume, ihre eigene Kreativität spielerisch zu entdecken“ seien entscheidend.

Anfang September hatte der Bremer Pädagoge Prof. Rudolf Kretschmann in Bremen auf einer Tagung über „Frühe Lernkompetenz am Beispiel des Schriftspracherwerbs“ berichtet. Nach einer European Child Care and Education Study aus dem Jahre 1999, die die kindliche Entwicklung zwischen dem 4. und 8. Lebensjahr in mehreren europäischen Ländern begleitete, können 75 Prozent der aufgeklärten Leistungsunterschiede durch die Erhebungen im 4. Lebensjahr vorhergesagt werden. „Lediglich 25 Prozent der Leistungsunterschiede wurden erklärt durch Indikatoren zur Qualität der schulischen Angebote bzw. der häusliche Lebensbedingungen im Alter von acht Jahren. Für das Vorschulalter wie für das Schulalter gilt, dass die häuslichen Lebensbedingungen etwa doppelt so großen Einfluss haben wie die Qualität der institutionellen Angebote, der schulischen oder und der des Kindergartens zusammen.“

Auch andere Studien zeigen, dass die Leistungsunterschiede der Lernenden Kinder über die Schuljahre hinweg „nahezu konstant“ bleiben – entscheidend ist der Einfluss der vorschulischen Entwicklung.

„Alle Schülerinnen und Schüler aber, welche die Grundschulzeit mit niedrigen Leistungen beginnen, behalten diese relative Position bis zum Ende der Grundschulzeit bei. Ein Aufholen der Schwächeren findet nicht statt.“ Oft werden schlechte Schüler während der Schulzeit eher noch schlechter. Auch diese Schüler lernen im bescheidenen Umfang dazu; „aber die Rückstände gegenüber ihren begünstigteren Mitschülern werden immer größer und die Schere der Leistungsunterschiede öffnet sich zunehmend mehr“. Was tun?

Für Kretschmann ist klar: „Der spätere Schulerfolg hängt in hohem Maße davon ab, wie viel bereichsspezifisches Vorwissen Kinder schon im Vorschulalter ausbilden. Wer im Vorschulalter schon bereichsspezifisches Vorwissen zum Lesen, Schreiben und Rechnen anhäuft, verschafft sich eine günstige Ausgangsposition. Kinder, die ohne solches Vorwissen zur Schule kommen, bleiben – im statistischen Durchschnitt gesehen – während ihrer gesamten Grundschulzeit die Schlusslichter und wahrscheinlich noch weit über diese Zeit hinaus!“

Schlussfolgerung: Die Angebote der Kindergärten müssen überdacht werden, die Kooperation zwischen Kindergarten und Schule muss verbessert werden, der Anfangsunterricht in der Schule muss so gestaltet werden dass vor allem Kinder mit ungünstigen Startvoraussetzungen besser gefördert werden können. Eltern können im Vorschulalter viel für den späteren Erfolg ihre Kinder tun – wenn sie können. Omas Weisheit: „Das lernst du noch früh genug in der Schule“ ist Gift für die Kinderköpfe. In England und in den USA werden für bildungsferne Familien so genannte family literacy Programme aufgelegt. Die Förderung setzt nicht direkt beim Kind an, sondern bei den Eltern, berichtete Kretschmann.kawe

Der Vortrag von Prof. Kretschmann mit seinen vielfältigen konkreten Hinweisen ist unter www.mehr-dazu.de nachzulesen. Weitere Starthilfen zum Schulanfang unter ( www.kretschmann-online.de )