„Das soziale Gewissen fehlt“

Heidemarie Bischoff-Pflanz, Grünen-Aktivistin der ersten Stunde, und Fraktionschef Volker Ratzmann über alte und neue Konflikte in ihrer Partei. Die feiert am 5. Oktober ihren 25. Gründungstag

Interview STEFAN ALBERTI

taz: Frau Bischoff-Pflanz, ist der 5. Oktober für Sie Freudenfest oder Trauertag?

Heidemarie Bischoff-Pflanz: Weder noch. Das ist für mich ein Tag wie jeder andere.

Das klingt nach viel Abstand zu den Grünen, die an diesem Tag 25 Jahre alt werden. Haben Sie Ihren Parteiaustritt von 1990 jemals bereut?

Bischoff-Pflanz: Nein. Weder, dass ich damals als Fraktionsvorsitzende zurückgetreten bin und kurz darauf die Partei verlassen habe noch dass ich vorher so aktiv war. Ich glaube, es war der richtige Zeitpunkt, da ich den Weg zu einer ausschließlich auf das Mitregieren versessenen Partei nicht mitmachen wollte.

Der aktuelle Fraktionschef muss den Termin wohl leidenschaftlicher sehen.

Volker Ratzmann: Absolut. Langer Atem, ein langer Weg, und wir haben eine Menge erreicht. Viel von dem, was wir im parlamentarischen Bereich auf die Agenda gesetzt haben, ist mittlerweile gesellschaftlicher Konsens. Gegen alle Unkenrufe haben wir bewiesen, dass es möglich ist, als Bewegung über das parlamentarische System etwas zu verändern.

Was denn?

Ratzmann: In dieser Gesellschaft kommt heute keiner mehr daran vorbei, Themen wie Bürgerbeteiligung, direkte Demokratie, Zuwanderung, Gleichberechtigung, den Kampf gegen Filz und Korruption ernst zu nehmen. Ganz zu schweigen von unseren klassischen Themen, wie Umwelt, Verkehr, Atom. Selbst in der CDU finde ich doch mittlerweile ein geschärftes Bewusstsein für Umweltschutz.

Wie kommt es dann, dass Wolfgang Wieland, Exfraktionschef, Exsenator und personifiziertes Gewissen der Partei, sein Resümee betitel mit „Wie wir die wurden, vor denen wir immer gewarnt haben“?

Bischoff-Pflanz: … und wogegen wir uns gegründet haben.

Ratzmann: Jeder reflektiert Veränderungen auf seine Weise. Dass die Grünen einen Prozess von Veränderungen durchgemacht haben, steht außer Frage. Das hat die Welt auch. Denken Sie nur an die Herausforderung der Globalisierung, der sich die Politik heute stellen muss und der wir uns natürlich auch stellen.

War dieser Prozess wirklich so natürlich?

Bischoff-Pflanz: Eine Veränderung musste schon kommen. Man kann nicht nur Protest sein, man muss ja auch konstruktive Ideen haben. Die hatten wir aber am Anfang mehr als heute. Meine Kritik geht mehr in die Richtung, dass wir vor 25 Jahren dem bestehenden Parteiensystem etwas entgegensetzen wollten. Etwas, in dem Basisdemokratie ein wichtiger Bestandteil sein sollte. Stattdessen haben wir zunehmende Parlamentarisierung und Anpassung erlebt.

Was meinen Sie mit Parlamentarisierung?

Bischoff-Pflanz: Dass Politik sich ausschließlich auf Parlament und das Mitregieren konzentriert, dass Außerparlamentarisches zu wenig beachtet wird.

Ratzmann: Die Tradition der 80er mit parlamentarischem Spielbein und außerparlamentarischem Standbein kann ich nur aufrecherhalten, wenn sich außerparlamentarisch auch etwas tut. Von da ist aber nicht mehr viel gekommen, und so bekommt die parlamentarische Seite natürlich ein Übergewicht. Ich finde es nach wie vor richtig, diesen Weg zu gehen, dort auch Verantwortung zu übernehmen.

Aus der PDS war jetzt zur Verantwortung bei der harten Linie des rot-roten Senats zu hören, man habe Schlimmeres verhütet. Viel anderes könnten die Grünen auch nicht machen.

Ratzmann: Verhüten allein reicht nicht, vor allem weil das PDS-Verhüterli Löcher hat. Die Grünen zeigen doch auf der Bundesebene, dass man auch als kleiner Koalitionspartner etwas erreichen kann. Nehmen wir die Bürgerversicherung: Das ist Gestaltung, keine Verhinderung.

Gefällt Ihnen, was die Grünen gestalten?

Bischoff-Pflanz: Von „Gestalten“ kann doch kaum die Rede sein. Mir fehlt es bei den Grünen am meisten im Bereich des Sozialen. Voraussetzung dafür ist, dass man weiß, wie es außerhalb des Parlaments aussieht. Diese Fähigkeit spreche ich einigen Grünen wirklich ab. Zu wissen, was es bedeutet, wenn in Berlin jedes vierte Kind arm ist. Wie es ist, mit wenig Geld auskommen zu müssen. Da fängt für mich das soziale Gewissen an, das ich bei den Grünen nicht mehr sehe, beispielsweise bei der Gesundheitsreform: Ich kann doch nicht von denen nehmen, die eh schon zahlen. Da muss ich dagegenhalten, auch wenn es unbequem ist.

Ratzmann: Die Grünen haben ein Konzept, das weiter geht. Die Gesundheitsreform war eine großkoalitionäre Veranstaltung. Ein Problem bestünde, wenn wir nicht länger sagten, dass wir mehr wollten …

Bischoff-Pflanz: … und nicht dafür zu kämpfen. Dass ich nicht alles umsetzen kann, ist klar, aber ich muss mich weiter dafür einsetzen.

Volker Ratzmann hat jüngst gefordert, dass das Land langfristig auch Unternehmen der Daseinsvorsorge verkauft: BVG, BSR und Krankenhäuser.

Bischoff-Pflanz: Diese Art Privatsierung lehne ich auf das schärfste ab. In Einzelfällen mag das gut sein, aber die meisten Erfahrungen sprechen dagegen: Die Privatisierung hat zum Beispiel zur Vernichtung von Arbeitsplätzen bei Reinigungskräften in Kitas und den Hausmeistern an den Schulen geführt, die gelten jetzt als zu teurer. Nehmen wir auch die Bahn: Ich würde mir da zwar durchaus Konkurrenz wünschen, aber in England ist die Privatisierung so schlecht gelaufen, dass der Staat jetzt für sehr viel mehr Geld Teile zurückkaufen musste.

Ratzmann: Die Kritik teile ich. Aber es gibt eben nicht nur England, in Schweden klappt es hervorragend. A und O ist, den ÖPNV, die Krankenversorgung und die umweltgerechte Abfallbeseitigung für die Menschen in Berlin optimal zu organisieren. Die öffentlichen Unternehmen in Berlin sind aber mehr machtpolitische Spielwiesen als am Gemeinwohl orientiert. Bankgesellschaft und Bielka sind zwei Seiten einer Medaille, und die verschlingen die Ressourcen der Stadt: bei der BVG bald 3 Milliarden Schulden, bei den Wohnungsbaugesellschaften 11, Kapitalvernichtung im großen Stil bei der Bankgesellschaft und Feuersozietät, und Vivantes braucht vielleicht auch bald wieder Geld. Wir wollen die Infrastruktur – Schienen, Gebäude der Krankenhäuser – in öffentlicher Hand behalten und die Leistungen da, wo es möglich ist, durch Private erbringen lassen nach Vorgaben, die durch Politik bestimmt werden.

Passt das Etikett „neoliberal“ auf Ratzmanns Vorschlag?

Bischoff-Pflanz: Ich mag diese Schlagworte nicht so, aber im Kern ist es das.

Die FDP fand sich in seinem Vorstoß wieder.

Bischoff-Pflanz: Die hat ja seit 30, 40 Jahren nichts anderes im Sinn, als zu privatisieren und ihre Klientel zu versorgen. Das möchte ich dann doch nicht vergleichen. Entscheidend ist, dass Privatisierung als Allheilmittel dargestellt wird – und davon halte ich überhaupt nichts.

Sind die Grünen für Sie eigentlich auf ewig tabu?

Bischoff-Pflanz: Als Partei, wie sie sich jetzt darstellen: ja. Aber ich würde gerne Dinge in Arbeitskreisen ohne Berührungsängste thematisieren. Ich habe bloß die Erfahrung gemacht, dass das gar nicht gewünscht wurde: Als 1990 mit mir viele andere austraten, haben wir der Fraktion inhaltliche Unterstützung angeboten. Die ist nie abgefordert worden.

Ratzmann: Times are changing: Ich würde mich über Zusammenarbeit freuen – ohne Aufforderung, gleich wieder in die Partei einzutreten.

Bischoff-Pflanz: Das würde ich sowieso nicht tun.

Haben Sie eigentlich für die Feier als Exfraktionschefin eine Einladung bekommen?

Bischoff-Pflanz: Ja, aber erst am Sonnabend, und Montag hätte die Antwort da sein müssen. Vielleicht gilt das jetzt nicht.

Ratzmann: Dann nehm ich dich mit.