Kämpfer vom Baggersee

Die respektable Leistung der deutschen Fußball-Nationalmannschaft beim 1:1 gegen Brasilien lässt Bundestrainer Klinsmann schwärmen und heizt die Fantasien vom WM-Finale 2006 weiter an

AUS BERLIN MATTI LIESKE

Seinen letzten magischen Moment hatte das Spiel der deutschen Mannschaft in der 60. Minute. Da streichelte Sebastian Deisler den Ball mit der Hacke genau in den Lauf eines Mitspielers und kassierte heftigen Szenenapplaus von den 74.315 Zuschauern im Berliner Olympiastadion, die solche Demonstrationen fußballerischer Hochkultur eigentlich mehr vom brasilianischen Gegner erwartet hatten. Auch dieser sparte nicht mit technischen Zaubereien, solange ihm der Sinn danach stand, doch es gehörte zum couragierten, mit dem 1:1-Unentschieden belohnten Auftritt des DFB-Teams, dass die Versuche, brasilianische Tricktechnik zu kopieren, nicht in der Lächerlichkeit endeten, sondern wiederholt Wohlgefallen auf den Rängen hervorriefen.

„Die Brasilianer kochen auch nur mit Wasser“, war vor der Partie einer der Lieblingssätze des neuen Floskelwarts der Nationalmannschaft, Jürgen Klinsmann, gewesen. Auch am Mittwoch zeigte sich indes, dass die H2O-Verbindung der Brasilianer aus irgendeiner heiligen Quelle zu stammen scheint, das Wasser der Deutschen aber wohl eher aus dem Baggersee. Dass diese eine gute Figur abgaben, lag an ihrer viel und vor allem selbst gerühmten Kampfkraft, oder, wie es Michael Ballack ausdrückte, der alle Anlagen zum ersten Hilfsfloskelwart hat: „Deutsche Mentalität, Zweikampfstärke, Aggressivität, Disziplin“. Zum anderen lag es aber auch daran, dass die spielerischen Fähigkeiten der Mannschaft groß genug sind, um gegen einen Gegner gut auszusehen, der ihr den nötigen Platz lässt. Und die Brasilianer, die nach dem Match gegen Bolivien am Sonntag und der Anreise am Montag ein wenig müde wirkten, ihre flinken Filigrankombination bald zugunsten langer Bälle auf Ronaldo einstellten und sich früh mit dem Remis zufrieden zeigten, taten das zumindest bis zur Halbzeit. Dann verstärkte Carlos Alberto Parreira sein Mittelfeld, und danach war, wie es der Coach ausdrückte, „unser Torwart nicht mehr gefragt“. Die restlichen Chancen hatten allesamt die Brasilianer, welche die deutsche Abwehr sofort in Verlegenheit brachten, sobald sie schnell über die Flügel angriffen, was sie aber selten taten.

Während Parreira das Match ziemlich unverhohlen als bessere Trainingseinheit und Experimentierfeld klassifizierte, erging sich Jürgen Klinsmann auf der anderen Seite in jener Schwelgerei, die in den nächsten zwei Jahren ständiger Begleiter des DFB-Teams sein dürfte. „Tolle Kombinationen, Doppelpässe, fantastisches Publikum, es hat Spaß gemacht, der Mannschaft zuzusehen, das Spiel hat allen gut getan, eine Mannschaft wächst zusammen, wichtiger Baustein auf dem Weg nach 2006“, usw. usf. Der neue Bundestrainer neigt dazu, ins Schwafeln zu geraten, nach ein paar substanziellen Sätzen reiht sich Gemeinplatz an Gemeinplatz, bis es ihm selbst auffällt und er abrupt verstummt.

In der Tat war es ein gutes, unterhaltsames Spiel, in dem Brasilien die bessere Mannschaft mit den größeren Torchancen war, die Deutschen aber mithielten und mit etwas Glück auch hätten gewinnen können. Der Klinsmann’sche Optimismus scheint anzukommen bei den Spielern, zumindest befleißigen sich die meisten brav seiner Rhetorik und beten emsig die Parolen nach, die der neue Boss permanent ausstreut. Das Beschwören des frischen Mannschaftsgeistes wirkt dabei oft ein bisschen ungerecht gegenüber Rudi Völler, schließlich wurde auch zu dessen Zeit stets betont, wie toll die Stimmung im Team sei und wie prima der Zusammenhalt. Inmitten aller Reformeuphorie sollte auch nicht außer Acht gelassen werden, dass die einzigen neuen Leute, die Klinsmann bisher ins Team holte, Robert Huth, Frank Fahrenhorst und Andreas Görlitz sind und das System sich trotz aller Offensivrhetorik kaum vom vorherigen unterscheidet.

Dennoch wirkt die Mannschaft stärker als bei der EM. Das liegt an besagtem Huth, der gegen Brasiliens Stürmerstars Adriano und Ronaldo eine sensationelle Partie spielte, während Nebenmann Fahrenhorst Nowotny-mäßige Probleme vor allem mit Ronaldo hatte. Er habe Huth schon letzte Saison in einigen Premier-League-Spielen gesehen, sagte Klinsmann, was er offensichtlich Rudi Völler voraushat, dem man ankreiden muss, dass er den Mann vom FC Chelsea viel zu lange ignorierte.

Auch die Rückholaktion in Sachen Gerald Asamoah zahlte sich aus. Die war nur logisch, schließlich ist der Schalker ein Spielertyp wie einst Klinsmann, nicht immer gut Freund mit dem Ball, aber permanent am Rackern, am Kämpfen und überaus durchsetzungsfähig. „Der macht mir so viel Platz“, lobte Torschütze Kevin Kuranyi Asamoah, der bei seiner Auswechslung mit Ovationen verabschiedet wurde. Außerdem profitiert Klinsmann von der Auferstehung Sebastian Deislers. Der Einbau eines weiteren Spielers neben Ballack, der sich gegen einen oder mehrere Gegenspieler durchsetzen und raffinerte Pässe in die Spitze spielen kann, anstelle des Verschleppers Hamann, bedeutet eine deutliche Qualitätssteigerung.

„Wir haben gesehen, dass wir mit den großen Gegnern mithalten können“, zog der neue Kapitän Michael Ballack ein zufriedenes Resümee. Auch diesen Satz kennt man von früher, denn gegen die stärksten, offensiv auftretenden Teams hatte die deutsche Mannschaft schon beim alten Teamchef meist am besten ausgesehen. Befreit man den Berliner Abend also von all dem Erneuerungsbrimborium und reduziert ihn auf seinen Kern, dann könnte man sagen: Das hätte Rudi Völler auch gekonnt. Bloß hätte er nicht so viel Wind darum gemacht.