Aus der dunklen Kammer

„Coetzee ist vor allem an Situationen interessiert“, so das Nobel-Komitee, „wo die Unterscheidung von richtig und falsch sich als unbrauchbar erweist“

von CRISTINA NORD

Der Fremde trägt eine merkwürdige Brille. „So etwas habe ich noch nie gesehen“, sagt der Icherzähler, „zwei kleine runde Glasscheiben in Drahtringen vor seinen Augen. Ist er blind?“ Er ist es nicht. Dennoch sind die Scheiben getönt wie bei der Brille eines Blinden, „von außen wirken sie undurchsichtig, aber er kann durchblicken. Er erzählt mir, das sei eine neue Erfindung.“ Worin liegt ihr Zweck? „ ‚Sie schützt die Augen vor blendender Sonne‘, sagt er. ‚Hier draußen in der Wüste könnte Ihnen das helfen.‘ “

Weder über den Icherzähler noch über den Fremden mit der Brille erfährt man viel auf dieser ersten Seite von „Warten auf die Barbaren“, einem frühen Roman des diesjährigen Literaturnobelpreisträgers J. M. Coetzee. Doch das Grundlegende ist da: Das Licht ist so hell, dass es das Sehen erschwert, und ob der Brillenträger tatsächlich durchblickt, darf man getrost in Zweifel ziehen. Die Wahrnehmung stößt an Grenzen, und damit ist schon eine der Fragen benannt, die in Coetzees Oeuvre ein Leitmotiv bilden: Was kann man erkennen? Was kann man bezeugen? Und wie zuverlässig ist man dabei?

Es findet sich in diesen Sätzen noch etwas anderes, was das Schreiben des südafrikanischen Autors auszeichnet: Seine Prosa ist von jener Sorte, die sich einprägt. Seine Sätze haben eine nachhaltige Wirkung auf die Vorstellungskraft. So knapp die Beschreibungen auch bleiben, sie lassen Bilder und Szenen lebendig werden. Manche Passagen – wie zum Beispiel der Beginn von „Warten auf die Barbaren“ – haben in der Imagination des Lesers über Jahre hinweg Bestand.

Coetzee feilt an der Sprache, bis nurmehr das Notwendige bleibt. Vielleicht trifft er damit, was einer seiner Protagonisten, der Literaturprofessor und Icherzähler von „Schande“, seinen Studenten über den englischen Dichter William Wordsworth beibringt: „weder die reine Idee, in Wolken gehüllt, noch das sinnliche Abbild, das sich auf die Netzhaut brennt und uns mit seiner faktischen Klarheit überwältigt und enttäuscht, sondern das Sinnes-Bild, das so flüchtig wie möglich gehalten wird, damit es die Vorstellung anregt oder belebt, die in einer tieferen Schicht des Gedächtnisses verborgen ist“.

Doch anders als bei Wordsworth wird dieses „Sinnes-Bild“ nicht in den Dienst einer romantischen Weltanschauung gestellt. Die Landschaften, die Coetzee entwirft, sind keine Orte des Erhabenen. Sie sind staubig, verlassen und karg, angesiedelt am äußeren Rand der von Menschen bewohnten Gebiete. Der Blick des Autors entzündet sich an nichts, er bleibt kühl. Nicht von ungefähr hat das Stockholmer Komitee die „analytische Brillanz“ dieser Prosa hervorgehoben.

„Coetzee“, heißt es weiter in der Begründung, „ist vor allem an Situationen interessiert, wo die Unterscheidung von richtig und falsch sich als unbrauchbar erweist, obwohl sie kristallklar ist.“ Seine Bücher behandeln moralische Fragen, ohne selbst moralisch zu sein. Sie propagieren nichts, machen sich mit keiner Sache gemein; sie zersetzen und zerreiben die Gewissheit, was gut und was böse ist. Und zugleich gehen sie der Gefahr aus dem Weg, es sich in dieser resignierten Erkenntnis – die Welt ist ein hässlicher Platz – bequem zu machen. Je eindringlicher die Schilderungen geraten, umso poröser werden die jeweiligen Situationen. Die Figuren zu beurteilen hat keinen Sinn, weder in „Warten auf die Barbaren“ (1980) noch in „Schande“ (1999), weder in „Elizabeth Costello“, der kürzlich auf Englisch erschienenen Mischform aus Roman und Essay, noch in einem frühen Roman wie „Im Herzen des Landes“ (1977), in dem die Tochter eines weißen Farmers es nicht ertragen will, dass ihr Vater eine schwarze Geliebte hat.

Die großen Themen sind also da: die Niederungen der menschlichen Existenz, die Wirkungen und Nachwirkungen der Apartheid und der Kolonialisierung, die Sexualität im Graubereich von Gewalt und Verführung, schließlich das Leid der Kreatur. So schneidend Coetzees Prosa dabei sein mag, so macht er doch nie einen Hehl daraus, dass er sie einer fundamentalen Aporie in der Darstellung abringt.

In „Das Problem des Bösen“, einem Stück aus „Elizabeth Costello,“ tritt dies zutage. Eine ältere australische Schriftstellerin, Elizabeth Costello, wird zu einer Konferenz nach Amsterdam eingeladen. Sie plant einen Vortrag zu einem Buch, das sich der Hinrichtung der gescheiterten Hitler-Attentäter widmet. Der Autor dieses Buches, ein gewisser Paul West, malt die der Hinrichtung vorangehenden Augenblicke plastisch aus. Er beschreibt die Bösartigkeit des Henkers, seine obszönen Bemerkungen, den jämmerlichen körperlichen Zustand der Verhafteten. Genau daran stößt sich Costello, weil sie meint, das Böse übertrage sich durch die detailreiche Schilderung auf den Autor und damit auf den Leser: „Ich nehme diese Behauptung ernst, weil ich das Verbot, verbotene Orte aufzusuchen, ernst nehme. Der Keller, in dem die Verschwörer vom Juli 1944 gehängt wurden, ist ein solcher verbotener Ort. Meiner Überzeugung nach sollten wir nicht in diesen Keller gehen, keiner von uns.“

Ist Costello Coetzees Alter Ego? In einem 1986 erschienenen Essay, „Into the Dark Chamber: The Novelist and South Africa“, ist viel von den Verhörkellern der südafrikanischen Geheimpolizei die Rede. „Die dunkle, verbotene Kammer ist der Ursprung der literarischen Fantasie per se“, schreibt Coetzee. Denn dieser Raum kennt die Extreme menschlicher Existenz, und zugleich ist er „niemandem außer den Beteiligten zugänglich“. Doch das literarische Scheitern liegt nahe. Zu viele südafrikanische Schriftsteller, so Coetzee, stellten Gewalt und Demütigung als Faszinosum dar, oder sie verfielen einem dunklen Lyrismus.

Coetzee hingegen begibt sich hinein in die dunkle Kammer – und bleibt zugleich vor deren Türe stehen. In „Schande“ ist der Icherzähler im engen Raum einer Toilette eingesperrt und kann deswegen weder bezeugen noch verhindern, dass seine Tochter vergewaltigt wird. In „Warten auf die Barbaren“ landet der Icherzähler in einer Zelle, in der zuvor gefoltert wurde. Er wird gedemütigt, des Nachts spürt er, wie Schaben über seine Glieder laufen, seine Kleidung ist starr vor Schmutz. Doch ob er das Leid der anderen Gefangenen erfasst, bleibt in der Schwebe: „Ich starre den ganzen Tag lang die leeren Wände an, weil ich nicht glauben kann, dass die Spuren der in diesen Mauern zugefügten Schmerzen und Demütigungen sich unter einem Blick, der eindringlich genug ist, nicht offenbaren werden; oder ich schließe die Augen und versuche, mein Gehör zu schärfen für die unendlich leisen Töne, die von den Schreien aller, die hier gelitten haben, stammen müssen und noch von Wand zu Wand widerhallen.“