Strahlender Pfaffenwinkel

Ganz Weilheim geht auf die Reise: Gleich zwei Tage hintereinander bespielen „The Notwist“, „Console“ und andere Weilheimer Familienmitglieder die Markthalle. Damit alle drankommen

von ULRICH SEITER

Es hat etwas, dieses süddeutsche Kaff. Schon im 16. Jahrhundert trug die “Weilheimer Schule“ Wesentliches zum bayerischen Frühbarock bei. Damals waren es Maler, Bildhauer und Altarschnitzer, die mit gottgefälliger Kunst weit über den Pfaffenwinkel strahlten. Sie widerlegten den Irrglauben, künstlerische Innovation komme aus den Städten. Unvergessen, aber vergangen. Heute strahlt Weilheim von neuem, und vor allem wärmt es die Herzen von Musik-Nerds. Was sich gegenwärtig in dem 20.000 Einwohner zählenden Städtchen südwestlich von München abspielt, erklärt sich am besten über Freund- und Verwandtschaften.

Es war 1987, als die Brüder Markus und Michael Acher mit der Gründung der Band The Notwist nach einer Sonnwendfeier das Signal für den „Sound Of Weilheim“ gaben. Als Teil einer atomisch kleinen Gruppe musikalisch Andersdenkender, eingebettet in kulturelle Unzugänglichkeit, knüpfte man mit gleich gesinnten Adoleszenten aus dem nahen Landsberg ein Netzwerk. Mit Kollaps und Intellectual Confusion erwuchsen daraus zwei im Noise und Experimentellen tätige Labels, Hausmusik hingegen fand sein Glück im Post-Folk und -Rock.

Lag der Fokus von Hausmusik zu Anfang ausschließlich auf lokalen Acts, fanden später auch Geistesgeschwister wie Palace-Bruder Will Oldham in den ländlichen Sound-Kosmos. Die limitierten Vinylveröffentlichungen in handgearbeiteten Sieb- und Stempeldruck-Covern des inzwischen samt Vertrieb nach München umgesiedelten Labels wurden zu Sammlerstücken

Heute gilt die Weilheimer Musikszene vielen als die innovativste im Land. Der Ruf des örtlichen Uphon-Studios wandelt sich ins Mythische. Und das Netz ist nun noch enger geknüpft als je zuvor. Denn hier spielt jeder mit jedem. Im kompositorischen Zentrum: Markus und Michael Acher. Lali Puna, Tied & Tickled Trio, Ms John Soda, Village Of Savoonga oder The Notwist sind nur die bekannteren Projekte, mit denen die beiden Multi-Instrumentalisten inzwischen das weite Feld der „Indietronics“ bewirtschaften. Die zur Industrie abgewanderten The Notwist stehen dabei – gemessen an ihren ersten beiden, fest im Hardcore und Postpunk wurzelnden Alben – für nimmermüden Drang zum musikalischen Fortschritt.

Schon Mitte der Neunziger, als sich Grunge endgültig müdegegreint hatte, holte sich die Band den Elektroniker Martin „Console“ Gretschmann als Richtungsweiser. Das einzige verbindende Element mit der musikalischen Vergangenheit blieb Markus Achers melancholischer Gesang. Untermalt von Gretschmanns digitaler Detailliebe und akzentuiert durch wahlweise Banjo, Cello oder Steel Guitar, schaffte es die Band im letzten Jahr mit dem Meisterwerk „Neon Golden“ nicht nur in den Mittelpunkt des musikmedialen Interesses, sondern sogar in die Charts. Erst kürzlich schufen Weilheims Protagonisten für Hans-Christian Schmids Episodenfilm Lichter einen kongenialen Soundtrack.

Zwischen The Notwist und anderen Projekten bleibt Gretschmann genügend Zeit für Soloarbeiten. Auf dem hoch gelobten Console-Doppelalbum „Reset The Preset“ trennte er seine beiden musikalischen Egos fein säuberlich voneinander: in Ambient-Strukturen und ziseliertes Songwriting.

So wie Gretschmann für die elektronische Renovation Weilheims steht, sorgt das Tied & Tickled Trio für frische Farben im Jazz. Auf seinem aktuellen Werk „Observing Systems“ huldigt das Musikerkollektiv um Markus und Michael Acher, Andreas Gerth und Tenorsaxofonist Johannes Enders dem Polit-Jazz eines Pharaoh Sanders oder Archie Shepp, lässt dabei aber genug Platz für elektronische Passagen. Von wegen Trio: Für die Live-Umsetzung im Rahmen des Weilheimer Familienausflugs sollen heute Abend bis zu 13 Leute auf der Bühne der Markthalle stehen. Und Michi Acher mischt an den zwei Abenden gar in vier Bands mit.

heute und morgen, jeweils 20 Uhr, Markthalle