Kaskade der Superlative

Auch von einem 0:0 des VfB Stuttgart gegen den Tabellenletzten 1. FC Köln lassen sich die neuerdings fußballverrückten Schwaben nicht ernüchtern, sondern schwelgen weiter in ungehemmter Euphorie

aus Stuttgart TOBIAS SCHÄCHTER

Geschichten. „Do sin a paar Müde dobei heit“, meinte ein Zeitgenosse schwäbischen Zungenschlags, ohne dass man auch nur den Hauch eines Vorwurfs in seinem Ton zu erkennen vermochte. Da waren gerade mal 39 Minuten gespielt im Stuttgarter Gottlieb-Daimler-Stadion, und die Uhr zeigte 16.24 Uhr an, eine Zeit, in der normalerweise unsägliche Musik und nervende Werbespots die Arenen der Bundesliga in einer Lautstärke beschallen, die den Hardrockern von Motörhead, angeblich lauteste Band der Welt, frech Konkurrenz machen. Aber der Anpfiff zur Bundesliga-Partie des Tabellenführers VfB Stuttgart gegen das Schlusslicht 1. FC Köln musste um 15 Minuten nach hinten verschoben werden: Der Andrang war zu groß, die Menschenschlangen stauten sich fast bis zum Volksfest auf den Cannstatter Wasen. Alle wollten dabei sein, drei Tage nach dem Triumph über Manchester United in der Champions League, „dieser magischen Nacht“ (Stuttgarter Nachrichten), dem „größten Fußballfest in Stuttgart überhaupt“ (Verteidiger Andreas Hinkel). 52.000 waren es am Ende, die auch das müde 0:0 gegen die mauernden Betonmischer aus der Stadt der Schnauzbärte und Sonnenstudios feierten, als hätte Magaths Team soeben die Champions League gewonnen.

Die von einem geschätzten Kollegen einmal als „Bruddler“ bezeichneten VfB-Zuschauer, die sperrige Skepsis so lustvoll kultivieren wie sie gerne Spätzle essen, sind in Euphorie. Und vielleicht ist das die größte Leistung, die diese junge, wilde Mannschaft, diese aus der finanziellen Not geborene Überfliegertruppe bisher erreicht hat. „Erfreulich“, bewertete Trainer Felix Magath das Publikumsinteresse schlicht, bevor der ehemals als Feuerwehrmann und Quälix verschriene Architekt und Maestro des Stuttgarter Wunders sich aufmachte nach Karlsruhe zu „Wetten, dass ..?“. So ändern sich die Zeiten. Jetzt also Magath bei Gottschalk. Geschichten eben.

„Viele wissen nicht, was möglich ist“, meinte Visionär Magath noch vor zwei Wochen, aber die unvergesslichen 90 Minuten gegen van Nistelrooy und Co. lassen plötzlich eine ganze Region ahnen, wie hoch hinaus es dauerhaft mit diesem VfB gehen könnte. Die Stuttgarter Nachrichten sehen „rosa Zeiten auf die Roten“ zukommen. Auch die Wirtschaft hat das Potenzial erkannt, das in deren Erfolg liegt. Der Sportwagenhersteller Porsche wirbt mit dem neuen VfB („911 Freunde müsst ihr sein“), und es verdichten sich die Anzeichen, dass es Präsident Erwin Staudt gelingt, Firmen wie DaimlerChrysler und Puma zu großen Investitionen zu bewegen. Noch aber drücken die Schwaben Schulden aus der Ära Mayer-Vorfelder in Höhe von 16,9 Millionen Euro. Sollte der Einzug ins Champions-League-Achtelfinale gelingen, wäre diese Last mit einem Schlag getilgt.

Gewiss, so weit ist es noch lange nicht, noch warten bis Weihnachten mindestens 15 Partien in allen Wettbewerben auf den tiefen Böden des Herbstes. Aber was sind das für Spieler: Hleb, Hinkel, Kuranyi. Diese Musterschüler, gelenkt von dem 36-jährigen Methusalem Zvonimir Soldo, kaschieren ihre Unerfahrenheit mit Talent und stoischer Konzentration auf das Wesentliche. Gab das Nullnull gegen Köln Anzeichen für einen möglichen Einbruch? Nein, im Gegenteil: „Wir haben das Spiel beherrscht und eine gute Leistung gezeigt“, analysierte Magath zu Recht, und die Kaskaden der Superlative purzelten beim VfB weiter, als gäbe es kein Morgen. Um 17.03 Uhr und nach 69 Spielminuten war Torhüter Timo Hildebrand „die beste Null aller Zeiten“, wie die BamS gestern schlagzeilte.

Nach 90 torlosen Minuten steht der neue Rekord bei 825 Minuten ohne Gegentor in der Bundesliga. Bisher hielt die Bestmarke mit 803 Minuten Oliver Kahn, der Ex-Titan. Das Torverhältnis von 9:0 nach acht Spieltagen ist so spektakulär wie Hildebrands Aufstieg zu einem Kandidaten für die Kahn-Nachfolge 2006. Diese stellt jedenfalls Teamchef Rudi Völler dem 24-jährigen Schwaben in Aussicht. Dabei schien nach einer Viruserkrankung und Knieproblemen in der letzten Saison sein Stammplatz mit der Verpflichtung von Dirk Heinen in Gefahr. Doch der Hänfling nach Torwartmaßstäben (1,85 m) kasteite sich in der Sommerpause, trainierte sich drei Kilo drauf und wiegt jetzt 78 Kilo. „Ich bin einen Schritt vorwärts gekommen“, meint Hildebrand und träumt von der Zeit nach 2006. „Aber der Grundstein für meine Ziele ist der Erfolg mit dem Verein“, glaubt er.

Hildebrand sieht seinen Rekord in aller Bescheidenheit „als Kompliment für die gesamte Mannschaft“. Und Kumpel Andreas Hinkel ist stolz, in einer Mannschaft zu spielen, die durch Hildebrands Rekord – ja, der 21-Jährige sagt das Wort – Geschichte macht. Dagegen ist die Meldung, dass Friedhelm Funkel durch das Remis nun doch vorläufig Trainer des 1. FC Köln bleibt, nur eine Fußnote.

VfB Stuttgart: Hildebrand - Hinkel, Meira, Bordon, Lahm - Soldo - Vranjes (59. Tiffert), Heldt (79. Cacau), Hleb - Kuranyi, Szabics1. FC Köln: Wessels - Dogan, Cichon, Sichone - Helbig (91. Voigt), Schröder, Lottner (83. Kringe), Springer, Heinrich - Ebbers, Scherz (66. Dworrak)Zuschauer: 52.000