„Der Boogieman knallt euch alle ab“

Vor einer Woche ging die schockierende Nachricht vom Amoklauf des Tim K. aus Winnenden um die Welt. Was er mit dem Alltag einer Theaterkursleiterin in einer Berliner Grundschule zu tun hat, zeigt dieses Unterrichtsprotokoll

11. 3. 2009, 15:28

Ich stehe in der Küche und schneide Zwiebeln. Tränen schießen mir in die Augen. Das Radio läuft. Irgendwer hat BBC eingestellt. Na, von mir aus.

15:30

Nachrichten. Der BBC-Reporter versucht, das Wort Winnenden auszusprechen. Winning, sagt er, danach Weining und dann Wennington. Schon wieder! Denke ich. Das Pesto ist alle.

19:03

Lena ruft an. „Was machen wir denn morgen mit den Kindern?“, fragt sie. Wir leiten zusammen zwei Theaterkurse an einer Grundschule. Morgen sind die Großen dran: 5./6. Klasse. „Äh, keine Ahnung!“ sage ich. „Bisschen Impro, paar Spiele, mal gucken, ob die Mädchen ihre Geschichte fertig geschrieben haben. Und Janek soll sein Gedicht vorlesen.“ Janek ist ein sogenanntes „schwieriges Kind“: er ist laut, tobt rum und haut die anderen. Außerdem verfügt er über einen Wortschatz und eine Assoziationsgabe, die bei einem Zwölfjährigen gelinde gesagt erstaunlich sind. „Ey, ich fick dich in den Po.“ „Geh kacken!“ und „voll behindert“ gehören zu seinen häufigsten Äußerungen. Es gibt Schulen, wo das niemanden wundert. Auf einer integrativen Montessorischule in Prenzlauer Berg wirkt es exotisch. Ich mag Janek. Er ist ein guter Schauspieler und er kann tolle Gedichte schreiben.

22:47

Meine schwedische Freundin Sabina erzählt, dass in Schweden eine Serie namens „Expedition Robinson“ im Fernsehen lief. Zwanzig Leute wurden auf eine einsame Insel gebracht. Jede Woche stimmten alle in geheimer Wahl ab, wer von ihnen nach Hause muss, bis am Ende zwei übrigblieben. Dann kamen alle anderen zurück und stimmten ab, wer von den beiden rausfliegt. Nach der ersten Woche mussten die Spieler damals vor laufender Kamera begründen, wen sie als Erstes rauswerfen wollten. Und warum! Der Betreffende fuhr daraufhin nach Hause und nahm sich das Leben.

12. 3. 2009 12:35

Unterrichtsbeginn. Anton will nicht bei der Aufwärmübung mitmachen, weil das uncool ist. „Wir können auch Hand in Hand durch den Raum laufen“, schlage ich vor. Da macht er doch mit. „Schminken wir uns heute?“, fragen die Mädchen; „Wann spielen wir endlich richtig Theater?“, die Jungs. Alles wie immer. Wir spielen. Nach sechs Wochen Unterricht kann ich mir auch die Namen der lieben Kinder merken. Die der Chaoten kann man innerhalb von fünf Minuten. Man muss die Namen ja auch ständig brüllen: „Janek, runter vom Tisch. Anton, leg das weg! Du legst das sofort weg!!!“ Manchmal kriege ich vor mir selber Angst.

13:21

Janek hat etwas an die Tafel gemalt. „Was ist das?“, frage ich ihn. „Das ist der Boogieman“, erklärt er, „der knallt euch alle ab.“ Mein Blick trifft den von Lena.

15:30

Seit ich mit Kindern arbeite, habe ich erhöhten Zuckerbedarf. Manchmal mache ich sogar Mittagsschlaf. Der BBC-Reporter kann den Ort jetzt fehlerfrei aussprechen. Winnenden, sagt er.

16:17

Eine Runde Spider Solitaire für die Verdauung.

16:38

Laut Welt.de befindet sich Deutschland im Schockzustand, Focus Online meldet, dass der Amokläufer von Winnenden unter Depressionen gelitten habe, in psychiatrischer Behandlung war und außerdem Egoshooter spielte, die Süddeutsche holt noch mal die Tagebücher des Emsdettener Selbstmordattentäters hervor: „Ich will, dass sich mein Gesicht in eure Köpfe einbrennt!“

17:02

Als ich das Browserfenster schließe, leuchten mir drei Worte vor dem grünen Hintergrund des Kartenspiels entgegen: „Sie haben gewonnen!“ LEA STREISAND