Die Liebe im Landschulheim

Schüchtern und zart: Wie man einen Liebesliederwettbewerb mit den Knien auf dem Piano gewinnen kann. Ein Beitrag zur „Folklore der Gefühle“ im HAU, das sich im September in eine „Mobile Akademie“ verwandelt hat

Die Welt wird immer alberner. Zumindest erscheint das so gelegentlich in den Berliner Theatern. Das HAU, gerade von der Zeitschrift Theater heute zum Theater des Jahres gewählt, lädt ein zum Liebesliederwettberb. Eine lockere Landschulheimatmosphäre liegt im Theatersaal. Alle scheinen sich zu kennen, lustige Rufe gehen zwischen Zuschauerraum und Bühne hin und her, Anspielungen, die keiner versteht, und „ I buy you a beer later“-Kumpeleien. Die TeilnehmerInnen des Wettbewerbs sind geladene Gäste und Studenten der Mobilen Akademie, ihre Aufgabe war es, ein Liebeslied zu komponieren und zu texten.

Seit dem 30. August hat sich der HAU-Theater-Komplex in die Mobile Akademie verwandelt, die unter der Überschrift „Fakelore“ 130 Künstler aus 48 Ländern in Berlin zusammenführte. Die „Fake-Volks-Akademie“ bietet Workshops, thematische Stadtführungen, Vorträge für einen Euro, Gespräche und Filme. Ethnische Selbstinszenierung, erfundene Traditionen, Ideologisierung und Mystifizierung des Fremden heißen die Themen. Der Liebesliederwettbewerb am Samstag war Teil der Programmschiene „Folklore der Gefühle“.

Die zwei Conférenciers Nicholas Bussmann und Lars Rudolph machen aus der Notwendigkeit, für alle verständlich zu moderieren, die Untugend, mit schlecht übersetztem Englisch und unbeholfenem Deutsch als Deppen-Guides durchs Programm zu kaspern. Aber ihr Witz kommt prima an. Die Zuschauer lachen sich halb tot und kichern unentwegt, wenn einer der Moderatoren wieder stammelnd um Worte ringt. Aus dem Publikum wird eine Ein-Personen-Jury ausgelost, dann beginnt der Wettbewerb.

Die erste Teilnehmerin, Margita Zalita aus Lettland, singt a cappella ein schwermütiges Lied, das sich zwischen den bekannten Extremen „Flüstern und Schreien“ bewegt, der Gast aus London trägt eine klassische Ballade am Piano vor: „Route Master“, ein Liebeslied für einen Bus. Ein dadaistisches Lautgedicht, das von einem Unfall handeln könnte, wird performt, es gibt Liebeslieder zu Laptop, Melodica, CD, Gitarre und Klavier, ein Kandidat streicht mit einem Bogen über Schlagzeugbecken und Pappkartons. Dazwischen bereichern szenische Einfälle die Nummernshow. Bühnenarbeiter laufen ziellos durchs Bild und setzen sich auf Stühle. Eine Discokugel wird herabgelassen, was die amüsierbereiten Zuschauer sofort mit einem euphorischen Hu! kommentieren müssen. Den Tiefpunkt des Abends setzt ein amerikanischer Stand-up-Comedian namens Donna Summer, der sich, seine Version des Liebesliedes, von seiner Ehefrau den verlorenen Ehering wieder anlegen lässt.

Großen Applaus hingegen erhält das Lied „Taiga my love“, denn hier gibt es fürs Auge schöne Naturdias und fürs Ohr sonor vorgetragene facts zu Flora und Fauna der Taiga und einen mitreißenden Refrain. Dann folgt ein sehr langes Video, Frauen in Asien, die Bambus schneiden, noch mehr asiatische Menschen bei Stein-, Hack- und Pflanzarbeiten. Unterlegt ist der Film mit sehr lauten, unangenehmen synthetischen Tönen. Das ruft bald Unmut beim sonst so kicherigen Publikum hervor. Scheiße! Schluss! Mann, Ey!-Rufe und protestierender Applaus schallen aus dem Zuschauerraum, während auf der Leinwand weiter im Feld gegraben, Dach gedeckt und kalligraphiert wird.

Quälend, aber irgendwie auch erholsam ist diese anstrengende Unterbrechung des gefälligen Kleinkunstabends. Viele Zuschauer stehen jetzt auf und verlassen entrüstet den Raum, Schluss mit lustig.

Dabei kommt noch Hanayo, eine altbekannte Berliner Musikperformerin und geht, ganz schüchternes japanisches Schulmädchen im Samtkleid, zum Piano, spielt ein paar Töne mit den zarten Knien, klimpert mit den Fingern eine kleine Melodie und haucht dazu. „Manchmal glaube ich, das es überhaupt keine Liebe mehr gibt“, sagt Kai Fagaschinski seinen Beitrag an, und lässt die Klarinette mehr erzittern als ertönen. So geht es immer weiter: Käthe Kruse von der Tödlichen Doris singt ein flottes Lied über die sprachlose Liebe: „L’amour analphabetique“, Lilo Wanders bewegt sich mit ihrem Beitrag ganz in der Tradition der großen Diseusen, viel Applaus bekommt zum Schluss ein Künstler aus der Republik Tadschikistan, der zur Gitarre kunstvolle Gesangsarabesken vorträgt.

Hanayo gewinnt schließlich den Wettbewerb, aus Freude über den Präsentkorb mit Getränken und Fressalien wirft sie zwei Gurken ins Publikum. Ihren Liedbeitrag kann sie nicht ein zweites Mal vortragen, dafür intoniert sie die japanische Nationalhymne zur drehenden Discokugel. So geht der Abend stimmungsvoll zu Ende, ja es hatte schöne Momente gegeben, wie beim „Bunten Abend“ im Landschulheim halt. Aber über das Geheimnis des Liebeslieds hat man nichts erfahren.

CHRISTIANE RÖSINGER