Der stundenlange Fußweg

Die Ausstellung „Schrumpfende Städte“ in den Berliner Kunstwerken erzählt vom Ende des Wachstums: Es sieht sich erstaunlich ähnlich, ob in Russland, Deutschland, England oder den USA

Fische fangen, Pilze sammeln, Schnaps brennen: aus dem Überlebenshandbuch im russischen Ivanovo

VON SUSANNE MESSMER

Die traurige Schönheit von mutwillig zerstörten oder vernachlässigten Häusern: Beinahe hört man die Holzhäuser ächzen, deren langsames Sinken ins Gras der grünen Umgebung Stan Douglas in Detroit fotografiert hat. Oder die Tragik von ehemals funktionalen, jetzt menschenleeren Fabrikhallen in der russischen Industriestadt Ivanovo: Es ist, als ob auf den Fotos von Elena und Vera Samorodovain, die sie von der niedergehenden russischen Industriestadt Ivanovo gemacht haben, die Menschen durch ihre Abwesenheit glänzten.

Wir befinden uns in der Ausstellung „Schrumpfende Städte“; in den Berliner Kunstwerken, und das Besondere an dieser Ausstellung ist: Hier wird nicht nur geklagt, hier geht es auch um die Faszination, die schrumpfende Städte auslösen können.

Schrumpfende Städte kennt man im Grunde schon seit den Fünfzigerjahren in den USA. Dass es inzwischen weltweit mehr als 400 Städte mit mehr als 100.000 Einwohnern gibt, die kleiner werden, weil ihre Einwohner in die Vorstädte ziehen, weil ihre Industrie demontiert wurde oder weil sich das politische System ihres Landes geändert hat, hat dazu geführt, dass man heute nicht mehr so selbstverständlich von Wachstum ausgehen kann wie vielleicht noch vor zwanzig Jahren. Ausgelöst durch die schrumpfenden fünf neuen Bundesländer, in denen es heute mehr als 20 Prozent Arbeitslose und 1,3 Millionen leer stehende Wohnungen gibt, hat die Bundeskulturstiftung deshalb vor zwei Jahren das Projekt „Schrumpfende Städte“ mit 3 Millionen Euro unterstützt. Zwei Jahre lang forschten vier Teams von Künstlern, Architekten, Filmemachern, Journalisten, Kultur- und Sozialwissenschaftlern um den Berliner Architekten und Kurator Philipp Oswalt, in Detroit, Ivanovo, Liverpool, Manchester und Halle und Leipzig. Jetzt stellen sie ihre Arbeitsergebnisse, die Analyse, vor. Im Herbst 2005 soll das Projekt mit einer Ausstellung in Leipzig, in der es eher um Lösungsvorschläge gehen soll, zum Abschluss kommen.

Ohne zu einem zusammenfassenden Überblick oder einer alles umspannenden These zu kommen, leben die 50 Arbeiten, Karten, Diagramme, Fotografien, Installationen, Videoarbeiten und Malerei, von der Archivierung des Alltags der Menschen, die sich in den schrumpfenden Städten etwas einfallen lassen müssen, um zu überleben. Es geht darum, dass Not erfinderisch macht: wie sich Menschen Räume aneignen, neue Arbeitsformen entwickeln, wie Subkulturen wachsen und damit auch Kritik an bestehenden Planungsstrukturen entsteht. So bilden das eigentliche Thema die Anarchie und die Eigendynamik, die oft geradezu von schrumpfenden Städten begünstigt zu werden scheinen und die einander, egal ob in Russland, Amerika, Deutschland oder England, erstaunlich ähneln.

Da sind zum Beispiel Scott Hockings beeindruckende Fotos von Scrappern, obdachlosen Männern, die sich drauf spezialisiert haben, leer stehende Häusern auszuschlachten und in wieder verwertbare Rohstoffe zu zerlegen. Eine Hand voll russischer Künstler hat ein Überlebenshandbuch gebastelt, das die Schattenwirtschaft zeigt, die sich aufgrund von Arbeitslosigkeit und Armut gebildet hat: Fische fangen, Pilze sammeln, Schnaps brennen. Eine der beeindruckendsten Arbeiten ist die von Ingo Vetters, der sich mit urbaner Landwirtschaft in Detroit befasst hat. Er hat Menschen fotografiert, die mitten in der Stadt, auf Brachflächen, Obst und Gemüse anbauen.

Im dazugehörigen Text im Katalog berichtet Vetters von der Tradition urbaner Landwirtschaft in den USA, davon, dass sich schon Henry Ford dafür engagierte und Arbeiterwohnsiedlungen nach dem Modell von Gartenstädten errichten ließ; aber auch von Nachbarschaftsinitiativen, die sich von dieser Tradition losmachen und die geordneten Bahnen der Geldwirtschaft unterlaufen, indem sie einfach tauschen, teilen und verschenken.

Es sind Bilder und Dokumentation wie diese, Geschichten wie aus dem Lehrbuch für Oral History, die vor allem die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Man will einfach wissen, wie Menschen in Städten wie diesen leben; und wird fast ungeduldig, wenn es darum geht, wie sich Menschen in diesen Städten künstlerisch mit ihrem Umfeld auseinander setzen. Man will einfach keine Ölbilder und keine komplizierten Installationen, wenn man dieselben Erkenntnisse auch direkter, zum Beispiel auf Fotos bekommen kann. Die Musikszenen in Detroit und Manchester – sie sind berühmt und hätten keiner weiteren Dokumentation bedurft –, den Raum mit Plattencovern, die Michael Baute und Johannes Ehmann gesammelt haben, weil auf ihnen Stadttrümmer zu sehen sind, überspringt man getrost. Und selbst Diedrich Diederichsens gewohnt brillant formulierter Text im Katalog beschreibt etwas, was man schon lange kennt: das Phänomen der Gentrifizierung. Jugendkulturen gerieren sich gern zukunftsträchtig, was sich wunderbar abzeichnet vor den Kulissen verfallender Traditionen. Und der Mainstream zieht nach, weil es ihm langweilig ist.

Vielleicht stoßen einem die etwas abstrakteren Herangehensweisen in dieser Ausstellung auch deshalb auf, weil man immer das Vorurteil mit sich trägt: Ist diese Perspektive nicht romantisierend? Sind hier nicht einfach mal nur wieder ein paar Künstler auf abenteuerlichen Trips an den Rand der Welt, um dann in den schicken Galerien damit hausieren gehen zu können? Warum wird die Ausstellung so ausführlich, wenn es um angesagte Schrumpfstädte wie Detroit und Manchester geht, warum hat sie keine Erklärung dafür, dass schrumpfende Städte in Ostdeutschland und Russland keine vergleichbaren Szenen zu bieten haben?

Nur gut, dass die Ausstellung auch die Kehrseiten zeigt, die Tristesse und die Ausweglosigkeit in den schrumpfenden Städten. Ein Dokumentarfilm von Kelly Parker und Toni Moceri zeigt zum Beispiel die Autostadt Detroit, in der sich 25 Prozent der Bewohner kein Auto leisten können und Stunden zu ihrem Arzt, zur Schule oder zum nächsten Supermarkt brauchen, weil es fast keinen öffentlichen Nahverkehr gibt. Wenn man diese Menschen in ihrem Alltag beobachtet, dann vergeht einem plötzlich die Lust, auch mal nach Detroit zu reisen. Die Exotik wird verstellt, und die Ausstellung wird davor gerettet, zum bunten Reiseführer mit reizvollen Ruinen zu schrumpfen.

Bis 7. 11. in den Kunstwerken, Auguststraße 69, Berlin. Katalog, 736 S., 400 farbige Abb., Verlag Hatje Cantz. In der Ausstellung 22 €, im Buchhandel 32 €. Begleitprogramm mit Filmen, Konzerten, Lesungen und Diskussionen unter www.shrinkingcities.com