Neue Fronten an der Oder

Polens Parlament fordert ohne Gegenstimme Reparationen von Deutschland. Die polnische Regierung distanziert sich von dem Entschluss

AUS WARSCHAU GABRIELE LESSER

Zwischen Deutschland und Polen sind noch Kriegsrechnungen offen. Nachdem bisher immer nur die deutschen Vertriebenen den Polen gedroht und die Hand aufgehalten haben, sind es nun die Polen, die von Deutschland Reparationen für die Kriegszerstörungen fordern. Der Sejm, das polnische Abgeordnetenhaus, verabschiedete am Freitag einen entsprechenden Appell an die deutsche und die polnische Regierung. Der Entschluss wurde mit nur einer Enthaltung in einer feierlichen Abstimmung gefasst, „im Bewusstsein der Rolle der historischen Wahrheit und der elementaren Gerechtigkeit in den polnisch-deutschen Beziehungen“, ohne Gegenstimme und mit einer einzigen Enthaltung.

Polen habe „bislang keinen angemessenen finanziellen Ausgleich und keine Kriegsreparationen für die gewaltigen Zerstörungen“ erhalten, die durch deutsche Aggression verursacht wurden, durch „Besatzung, Völkermord und den Verlust der Unabhängigkeit Polens“. Die polnische Regierung solle daher „angemessene Maßnahmen“ gegenüber der Regierung der Bundesrepublik Deutschland ergreifen.

Zunächst wurde die Reparationsfrage im Potsdamer Abkommen vom Juli 1945 geregelt. Darin legten die Siegermächte fest, dass die UdSSR 15 Prozent der von ihr aus der sowjetisch besetzten Zone Deutschlands entnommenen Reparationsgüter an Polen weitergeben müssen. In Polen wird zwar geltend gemacht, dass Moskau seine Verpflichtungen nicht erfüllt habe – das ist aber Deutschland kaum anzulasten. Dagegen gelten die deutschen Ostgebiete, die nach dem Krieg zu Polen geschlagen wurden, offiziell nicht als Reparation, sondern als Ausgleich dafür, dass der polnische Osten an die UdSSR ging.

Für die Bundesregierung ist entscheidend, dass Polen 1953 und 1970 explizit auf weitere Reparationsleistungen verzichtete. 1953 ging es darum, mit dem Bruderstaat DDR wirtschaftliche Beziehungen aufbauen zu können. 1970, beim Abschluss des Warschauer Vertrags mit der Bundesrepublik, wiederholte Polen den Verzicht – diesmal gegenüber dem Westen. Damit schien die Frage endgültig geklärt zu sein.

Die polnischen Abgeordneten meinen aber nun, dass Polen damals kein souveräner Staat gewesen sei und die Verzichtserklärungen somit nicht verbindlich seien. In Polen wird ernsthaft diskutiert, die Verträge von 1953 und 1970 für ungültig zu erklären. Es ist allerdings kaum zu erwarten, dass sich etwa der Internationale Gerichtshof (IGH) in Den Haag im Streitfall auf die polnische Seite stellen würde. Schließlich würde die ganze Nachkriegsordnung ins Wanken geraten, wenn Polen, Ungarn und die anderen Warschauer-Pakt-Staaten sich heute mit Hinweis auf die sowjetische Dominanz von jedem beliebigen Vertrag lossagen könnten.

Und selbst wenn der Reparationsverzicht ungültig wäre, hätte Polen dadurch noch keinen Anspruch auf deutsche Entschädigungsleistungen. Hierfür müsste erst ein völkerrechtlicher Vertrag zwischen der Bundesrepublik und Polen geschlossen werden. Wegen der unabsehbaren Folgen im Verhältnis zu anderen ehemaligen Kriegsgegnern ist nicht damit zu rechnen, dass Deutschland zu einem derartigen Schritt bereit wäre.

Die Initiative des Sejm ist daher vor allem geeignet, die bisher für Polen eher günstige Zusammenarbeit der beiden Länder in der EU zu belasten. Das weiß auch die Regierung Polens, die sich nur wenige Minuten nach der Verabschiedung des Sejm-Appells von diesem distanziert hat. Man sehe die Reparationsfrage als erledigt an, meinten sowohl Außenminister Wlodzimierz Cimoszewicz als auch Ministerpräsident Marek Belka.

In zweiten Punkt des Appells heißt es, dass „Polen keine finanziellen Verpflichtungen gegenüber Bürgern der Bundesrepublik Deutschland“ trage, die sich aus dem Zweiten Weltkrieg und dessen Folgen ergäben. Dies ist allerdings noch offen und hängt wesentlich vom Inhalt des geplanten polnischen Reprivatisierungsgesetzes ab. Falls dieses Gesetz auch Entschädigungen für Enteignungen vor 1949 vorsieht, dann dürfen hierbei keine Ausnahmen zu Lasten heutiger deutscher Staatsbürger gemacht werden. Andernfalls wäre dies eine offene Diskriminierung, die vor den europäischen Gerichten in Luxemburg und Straßburg gerügt werden könnte.

Im letzten Punkt ihres Appells richten sich die polnischen Abgeordneten direkt an die Bundesregierung. Sie solle die „Grundlosigkeit und Unrechtmäßigkeit deutscher Entschädigungsforderungen gegenüber Polen anerkennen und damit aufhören, die deutschen Bürger auf den Gerichts- oder Verwaltungsweg gegenüber Polen zu verweisen“.

Hier geht es aber nicht so sehr um die Vertriebenen der Nachkriegsjahre, sondern vor allem um Spätaussiedler, die in den 70er- und 80er-Jahren das Land verließen. In einigen hundert, vielleicht auch tausend Fällen, übernahm der polnische Staat das Eigentum der Spätaussiedler, verabsäumte es dann allerdings, den Eigentümerwechsel im Grundbuch festzuhalten. Insbesondere in solchen Fällen hofft die Preußische Treuhand, eine private Firma von Vertriebenen, die im großen Stil Eigentumsklagen an polnischen Gerichten einreichen will, auf schnelle Erfolge. Doch die Chancen, massenhaft Prozesse zu gewinnen, sind eher gering: Ehemalige Reichsdeutsche werden kein zuständiges Gericht finden. Und die ehemalige deutsche Minderheit mit polnischem Pass muss zusammen mit den Polen auf das noch zu schaffende Reprivatisierungsgesetz warten. Selbst die Spätaussiedler, die noch als Eigentümer im Grundbuch stehen, haben nicht die besten Karten. Denn anders als in Deutschland haben die Grundbücher in Polen keinen verbindlichen Charakter.

Doch in Polen hat der Wahlkampf begonnen, da kümmert man sich nicht so genau um Einzelheiten. „Wir müssen uns verteidigen“ klingt stolz, mutig und patriotisch. Allein darauf kommt es den Politikern im Moment an.

MITARBEIT: CHRISTIAN RATH