Außer Kontrolle

Die Kämpfe breiten sich aus, und die US-Truppen sind ohne Strategie – im Gegenteil: Sie arrangieren sich mit den Warlords

VON KARIM EL-GAWHARY

Wie sehr kontrolliert die US-Armee eigentlich die Lage noch? Während die amerikanische Presse über die wachsende Zahl von Gebieten berichtete, in die sich die Armee überhaupt nicht mehr hineintraut, eskalierte am Sonntag erneut die Situation in der Hauptstadt. Mitten im Zentrum Bagdads kam es zu offenen Feuergefechten zwischen Aufständischen und der Armee. Zuvor war die grüne Zone, in der die irakische Übergangsregierung und die US-Botschaft residieren, unter den schwersten Mörserbeschuss seit Monaten geraten.

Ebenfalls gestern haben sich die Entführer der beiden italienischen Geiseln über eine Internetseite gemeldet und ein neues 24-stündiges Ultimatum gestellt. Sie drohen mit der Ermordung der beiden Frauen, sollte Italien seine Truppen nicht abziehen. Wer sich hinter den Entführern der Gruppe „Islamische Dschihad-Organisation“ verbirgt, ist weiterhin unklar. Die Frauen, die am vergangenen Dienstag entführt wurden, sind Mitarbeiter einer im Irak tätigen Hilfsorganisation (siehe unten).

Washington gibt sich unbeirrt. „Wir werden die Kontrolle wichtiger Teile des Irak wiedererlangen“, lautete das fast wortgleiche Credo, zu dem sich sowohl US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld als auch Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice veranlasst sahen. „Niemand hat irgendein Gebiet aufgegeben“, unterstrich Rice, und Rumsfeld verspricht, dass die Ordnung in Orten, wie der Stadt Falludscha am Ende wieder hergestellt sein wird.

Dennoch wird die Liste der Orte, in die sich die US-Armee überhaupt nicht mehr oder nur selten hineinwagt, immer länger. Der Rückzug begann im April in Falludscha, das damals wochenlang von den US-Marines bestürmt, die Aktion aber nach 600 toten Irakern und einer schlechten Presse abgebrochen wurde. Es folgte ein Deal: Die Marines zogen sich zurück, und an ihre Stelle trat eine Gruppe ehemaliger irakischer Offiziere, die in der Stadt für Ordnung sorgen und die Guerilla kontrollieren sollte. Die Brigade hat sich inzwischen aufgelöst und ist zum größten Teil zur Guerilla übergelaufen. Nun scheint eine Gruppe Islamisten die 250.000-Einwohner-Stadt zu regieren. Es folgten andere Städte im sunnitischen Dreieck. Und als sei das nicht genug, entglitt der US-Armee auch noch die Kontrolle in der heiligen Stadt Nadschaf, bevor auch hier ein Abkommen geschlossen wurde, und der aufständische schiitische Prediger Muqtada al-Sadr mit seiner Mahdi-Armee samt Waffen abzog, um sich in Sadr City, einem schiitischen Armenviertel in Bagdad, neu zu gruppieren. Dort versprechen seine Männer inzwischen, auf jede US-Patrouille zu schießen, die sich in das Quartier wagt. Allein letzten Dienstag gab es mindestens 34 Tote.

Die US-Kommandeure bestehen meist darauf, dass ihre Truppen die Fähigkeit besitzen, das Problem mit Gewalt zu lösen. Aber sowohl die US-Regierung, als auch Iraks Übergangsregierung unter Ministerpräsident Allawi zögern. Allawi setzt immer noch auf Verhandlungen. Auch glaubt Allawi vor allem bei der Frage der westlichen Geiseln eine bröckelnde Unterstützung auszumachen. Viele Iraker hielten diese Entführungen mindesten für sinnlos, wenn nicht für barbarisch.

Die Bush-Regierung ihrerseits will kurz vor den Präsidentschaftswahlen den Irak aus den Schlagzeilen heraushalten. Sowohl Meldungen über eine Großoffensive mit entsprechenden Gefallenen, als auch Berichte über Verhandlungen mit der Guerilla sind im Wahlkampf wenig opportun. So lässt die Gegenstrategie auf sich warten. Stattdessen werden Versuchsballons gestartet.

In Samarra haben sich die US-Truppen den Weg in die Stadt wieder mit lokalen Stammesführern ausgehandelt. Die wiederum dienen als Mittelsmänner zu der im Ort verschanzten Guerilla. Am Donnerstag fuhr die erste US-Patrouille in die Stadt mit der Zusicherung, nicht beschossen zu werden. Im Gegenzug sollte eine Brücke über den Tigris geöffnet werden. Augenzeugen berichten, sobald die US-Patrouille um die Ecke gebogen war, nahm die Guerilla wieder ihren Kontrollgang auf. Ahmad Abdul Ghafur, einer der Imame der Stadt, beschreibt den Sinn des ganzen aus der Sicht der Einwohner: „Alle stimmen dem heiligen Krieg zu, aber am besten vor den Toren der Stadt.“

An anderer Stelle versucht es die US-Armee mit der eisernen Faust. Am vergangenen Donnerstag bombardierte sie zwölf Stunden lang die Stadt Talafar an der syrischen Grenze, von wo aus sie in den letzten Wochen immer wieder beschossen wurden. Die Kämpfe dauern an.

Am Ende wird man sich für eine der beiden Strategien entscheiden müssen. Denn längst werden Fakten geschaffen. In Falludscha und Ramadi beispielsweise ist das staatliche System zusammengebrochen. Viele, die zuvor mit der Regierung in Bagdad zusammengearbeitet haben, sind entweder zur Guerilla übergelaufen, wurden umgebracht oder sind geflohen. Die wenigen verbliebenen Polizisten dürfen keine Waffen tragen. Einer von ihnen beschreibt es so: „Sie entscheiden, ob du harmlos oder ein Spion bist, und wenn du ein Spion bist, bist du tot.“ Sie – das sind offensichtlich einige lose zusammenarbeitenden Gruppen, die die Herrschaft übernommen haben, jede mit ihrer eigenen Uniformmode aus Kufiatüchern und Skimasken, jede mit ihren eigenen Straßensperren.

Ungefähr vier Gruppierungen können in Falludscha ausgemacht werden. „Die schwarzen Banner“ unter der Führung des als puritanisch geltenden Kommandeurs Omar Hadid, einem Iraker, der Verbindungen zu Al-Qaida unterhalten soll. Dann gibt es die Kämpfer um Ahmad Samaka, eher eine Gruppe von Banditen mit wenig Ideologie, die sich durch Straßenraub an der Autobahn nach Bagdad finanziert und gelegentlich US-Konvois angreift. Die dritte Gruppe hat sich um den lokalen Fundamentalisten-Prediger Abdullah Janabi geschart, und die vierte wird von Majeed Abu Darah, einem ehemaligen örtlichen Polizeichef unter Saddam angeführt und soll hauptsächlich aus Mitglieder der alten Republikanergarde bestehen.

In diesem Chaos wurde eine Art islamistische Gerichtsbarkeit eingeführt. Allein in Falludscha wurden seit Mai über 30 Menschen als Spione zu Tode verurteilt. Prominentester Fall ist der Chef der von den Amerikanern ausgebildeten Nationalgarde, Suliman Marawi. Auf dem Marktplatz von Falludscha werden Videobänder verkauft, die eine Sequenz zeigen, in der Marawi sich selbst als Verräter bezeichnet, bevor er von einer Gruppe maskierter Männer zu Boden geworfen und geköpft wird. Auf dem gleichen Video ist auch ein Ägypter zu sehen, der sich als Muhammad Fauzi vorstellt und zugibt, elektronische Chips an Häusern platziert zu haben, von denen aus die Aufständischen operieren und die den US-Bombern als Zielhilfe dienen. Auch er wird geköpft.

Dem Gouverneur der zuständigen Provinz Anbar, Abdul Karim Bejes, unter Saddam Hussein Polizeichef in derselben Region, wurde ein anderes Schicksal zugedacht. Seine drei Söhne wurden entführt und er musste vor laufender Kamera, Gott um Vergebung für seine Sünden anflehen, dafür was er den „heiligen Kriegern“ angetan und dafür dass er „mit den ungläubigen Amerikaner zusammengearbeitet hat“, bevor er seinen Rücktritt verkündet. Nachdem er vor der Kamera zusammengebrochen war, wurden seine Söhne hereingeführt.

Spätestens zu den irakischen Wahlen, die bis Januar 2005 abgehalten werden sollen, wird das Problem noch akuter. Es werden erste Stimmen laut, die davon sprechen, die Wahlen in den aufständischen Städten auszusetzen. „Wenn ein Krebsgeschwür wie Falludscha nicht daran teilnimmt, bleibt die Wahl dennoch legitim“, meint Generalleutnant Thomas Metz, der Chef der US-Bodentruppen. Eine Ansicht, der sich allerdings nur wenige Iraker anschließen dürften. Eine Regierung, die nur in Teilen des Landes gewählt würde, dürfte nur eine Fortsetzung des heutigen Dramas darstellen. Schlimmstenfalls könnte das mit dem Auseinanderbrechen des Landes enden.