Habemus directorem musicae

In einer ungewöhnlichen Veranstaltung stellte sich der neue künstlerische Leiter der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen vor: Der Este Paavo Järvi will in der Hansestadt seine musikalische Heimat finden – zumindest für drei Jahre

Ungewöhnlich die Zeit – 19.15 Uhr –, ungewöhnlich der Ort – das Flughafenterminal 2 –, ungewöhnlich das Publikum – geladene Gäste aus Politik und Kultur –, ungewöhnlich die Länge: bis nach 23 Uhr. Und nicht alltäglich der Anlass: Mit einem Konzert verkündete die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen, was viele schon seit Monaten wissen: Habemus directorem musicae! Der 40-jährige Estländer Paavo Järvi tritt die Nachfolge von Daniel Harding an.

Hatte man mit dem sehr jungen Harding sich gegenseitig weitergeholfen und einen gemeinsamen Weg gemacht, so hat sich die Kammerphilharmonie mit dem Engagement von Järvi gewissermaßen von vornherein in eine andere Liga katapultiert. „Wir sind erwachsen geworden“, so die Sprecherin des Orchesters, Beate Weis: Järvi ist zur Zeit nicht nur Chef des Cincinnati Symphony Orchestras, sondern wird auch in einem Atemzug mit Dirigenten wie Esa Pekka Salonen genannt. Nun also hat er für drei Jahre zugesagt. Das Orchester hofft auf fünf. Järvis Bruder Kristjan hat allerdings beim diesjährigen Musikfest Bremen verlauten lassen, er wisse nicht so recht, woher Paavo die Zeit für Bremen hernehmen wolle.

In der Tat: Erst kürzlich hatte der seinen Vertrag beim Cincinnati Orchestra bis 2006/07 verlängert. Zwei Konzerte wird er in der nächsten Saison in Bremen dirigieren, eins beim Bach-Fest in Leipzig, eins bei den Salzburger Festspielen. In einem etwas seltsamen Widerspruch dazu steht Järvis in einem Interview getätigte Äußerung, heutige Dirigenten seien viel zu wenig bei ihren Orchestern. Und dass er es „nirgendwo lange aushalten kann“. Bremen werde seine „musikalische Heimat“, versprach er jedenfalls.

An der Deutschen Kammerphilharmonie reizt ihn nun genau das, was es in den großen Orchestern mit ihren Hundertschaften nicht mehr gibt: die Individualität und das Selbstbewusstsein jedes Einzelnen, „der suchende Geist“, die „Flexibilität“. Deswegen wolle er hier auch nicht musikalischer Direktor sein, sondern „künstlerischer Leiter, Freund, Bruder“, wie er ebenso sympathisch wie pathetisch sagt: „Nur dieser Geist ist effektiv.“

Järvi stammt aus einer in Tallinn beheimateten Musikerfamilie: Großvater, Vater Neeme und Bruder Kristjan sind Dirigenten. Insofern sagt der Schüler von Leonard Bernstein selbst, sein Beruf sei keine bewusste Entscheidung gewesen. Und: „Das ist kein Job, sondern eine Lebensweise.“ Auffällig ist, dass in seiner Discografie die großen Sinfonien der Klassik und Romantik wie Beethoven, Schubert, Schumann und Brahms noch fehlen. Das soll nun gleich zu Anfang mit der Kammerphilharmonie anders werden: Zuerst ist die Einspielung aller Beethoven-Sinfonien geplant.

Eine Kostprobe davon gab’s mit der Wiedergabe der selten gespielten Vierten: außerordentlich die Kontraste vom eleganten Tanz zum bedrohlichen Geräusch, außerordentlich plastisch die Gestik, die Järvi voll auskostet und damit aus der als spröde verschrieenen Sinfonie ein spontanes, geradezu verrücktes Werk macht. Sein Dirigierstil, den Bremern ja seit 1995 bekannt, ist ungemein ausgewogen: Weder zu viel noch zu wenig arbeitet er auch sehr stark mit einer geradezu magischen Mimik. Begeistert folgten die MusikerInnen mit Spitzenleistungen in den Solopartien – als, wie es der Intendant der Kulturhauptstadtbewerbung Martin Heller so schön formulierte: „Garanten der Leidenschaft“.

Ute Schalz-Laurenze