Biblisches Beamtenrecht

Heiner Geißler ist Christ. Daher fragt er sich, was Jesus wohl zu den aktuellen politischen Debatten sagen würde. Die Antworten sind teils streitbar und ernsthaft, teils nur ärgerlich

„Was würde Jesus heute sagen?“ Ein größerer Anspruch als mit diesem Buchtitel lässt sich kaum erheben – jedenfalls dann nicht, wenn der Autor ein bekennender Christ wie Heiner Geißler ist. Ist dessen Anliegen legitim, auf die umfassende Frage nach der politischen Botschaft des Evangeliums eine zeitgemäße Antwort geben zu wollen? Oder ist es vermessen? Es ist beides zugleich. Weite Strecken des Buches sind eine Wohltat: streitbar, sehr ernsthaft und längst überfällig. Andere Teile sind auf verstörende Weise ärgerlich.

Wer glaubt, die eigene Meinung zu einer politischen Entscheidung drücke stets den göttlichen Willen aus, der muss sich den Vorwurf gefallen lassen, das Evangelium für eigene Zwecke zu instrumentalisieren. Das tun von George Bush bis Angela Merkel schon genug Leute. Geißler hätte dieser Versuchung widerstehen sollen – seine Provokationen hätten umso schärfer und damit glaubwürdiger gewirkt. Als ehemaliger Student eines Jesuitenordens hat er über die ethischen Grundsätze einer christlichen Gesinnung viel zu sagen. Warum die Ausflüge in allzu kleinteilige Tagespolitik?

Geißler zitiert ein Jesus-Wort: „Ihr bindet schwere und untragbare Lasten zusammen und legt sie den Menschen auf die Schultern. Ihr selbst aber wollt keinen Finger krumm machen.“ Und dann schreibt er, was dies heute wohl meinen könnte: „Das erinnert an die immer höheren Sozialbeiträge für die Arbeitnehmer und Arbeitgeber, auch für die Sozialkosten im Osten, an denen sich aber die Beamten, Abgeordneten und Minister mit keinem müden Euro beteiligen.“ Es gibt gewiss sehr gute Gründe, für eine Reform des Beamtenrechts einzutreten. Aber vor der impliziten – wenngleich niemals ausdrücklich formulierten – Unterstellung der Gottlosigkeit möchte man die Gegner solcher Argumente denn doch in Schutz nehmen.

Der Menschensohn hätte, davon zeigt sich Geißler überzeugt, auch im Zusammenhang mit Krieg und Frieden stets dieselben Ansichten vertreten wie er selbst. Gemessen an den moralischen Kriterien des Christentums sei der Krieg der Alliierten gegen Nazideutschland „natürlich gerechtfertigt“ gewesen. „Dasselbe gilt für den Einsatz der Nato im Kosovo und in Afghanistan.“ Den Krieg gegen den Irak hält Geißler und seiner Ansicht nach auch Jesus hingegen für falsch: „Ich glaube, der Papst hatte Recht, als er den Irak-Krieg verurteilte, auch wenn sich der amerikanische Präsident George W. Bush für seinen Krieg auf Gott berufen hat. Es ist nicht der erste Missbrauch des Namens Gottes in der Geschichte der Menschheit gewesen.“ Und nicht der letzte.

Ist ein ethisches Fundament, das im Christentum gründet, unbrauchbar für die Tagespolitik? Eben nicht. Das Buch von Heiner Geißler ist dort überzeugend und lesenswert, wo er die Wertediskussion nicht im Detail, sondern im Grundsatz zu führen versucht. Ein Menschenbild ist etwas anderes als das Beamtenrecht. Könnte er die politische Führung der Union von seinem Standpunkt überzeugen: die Folgen wären weitreichend.

Die Würde des Menschen und die Nächstenliebe sind aus Geißlers Sicht die Kernpunkte der christlichen Ethik – wobei Letztere sowohl das „revolutionäre“ Gebot einschließt, seine Feinde zu lieben, als auch die Solidarität mit den sozial Benachteiligten. Folgenlose, weil zu allgemein gehaltene Prinzipien? Nicht doch. Immer häufiger bedienen sich CDU-Spitzenpolitiker der Religion als Werkzeug der Abschottung. Sobald die Parteivorsitzende von christlichen Werten spricht, ahnt man, was folgt: die Absage an einen EU-Beitritt der Türkei.

Diesem Missbrauch aus überaus durchsichtigen Motiven setzt Geißler ein leidenschaftliches, engagiertes Plädoyer für die Würde des Menschen – die Würde aller Menschen – entgegen. Angela Merkel, Roland Koch und Friedrich Merz werden von ihm nicht namentlich genannt. Dennoch ist die Zielrichtung unmissverständlich: „Nichts ist der jesuanischen Botschaft fremder als Nationalismus, ethnische Arroganz und deutsche Leitkulturen.“ Die CDU müsse sich die Frage gefallen lassen, „warum sie immer dann an vorderster Front zu finden ist, wenn Restriktionen gegen Ausländer beschlossen werden sollen“.

Ja, diese Frage muss sie sich gefallen lassen. Gerade vom Sozialpolitiker und Menschenrechtler Heiner Geißler. Sein Buch könnte den Beginn einer Diskussion markieren, die über die Banalitäten der Frage nach dem Kopftuch einer muslimischen Lehrerin hinausweist. Eine Vertiefung des Themas wäre dafür allerdings hilfreich. Wie wäre es mit einem zweiten Band? Zu einem enger gefassten Thema? Das, was Geißler bis jetzt geschrieben hat, könnte auf ein solches Werk neugierig machen.

BETTINA GAUS

Heiner Geißler: „Was würde Jesus dazu sagen? Die politische Botschaft des Evangeliums“. Rowohlt Berlin, Berlin 2003, 160 Seiten, 16,90 €