Unruhiges Wiegen der Erinnerungen

Melodische, melancholische und rätselhafte Shortcuts: Alexa Hennig von Langes Roman „Woher ich komme“

„Ich weiß sehr vieles nicht. Ich weiß nur, woran ich mich jetzt erinnere, und das wird von Tag zu Tag mehr …“ Am Anfang ahnt man noch nicht, dass Alexa Hennig von Lange schon hier, auf der zweiten Seite und zu Beginn des dritten Absatzes ihres vierten Romans, das psychopoetische Programm von „Woher ich komme“ verrät. Dafür schwant einem bereits, dass alle, die Alexa Hennig von Langes Bücher jemals für „platt“ oder „schlicht“ oder für „gekonnt banal“ (Brigitte Young Miss) gehalten haben, sich in diesem schönen schmalen Bändchen noch umgucken werden. Und auch wer zum Beispiel „Relax“, ihren Debütroman aus dem Jahr 1997, gern gelesen hat, weil er dicht, direkt und komisch am Leben und Denken von Chris und seiner ratternden Kleinen entlanggeschrieben war, wird hier vor mehr als einem Rätsel stehen.

Denn die Ich-Erzählerin, die Alexa Hennig von Lange in „Woher ich komme“ sprechen lässt, taucht sofort in einen dunklen Stream of Memory, der nicht nur assoziativ und bedeutungsträchtig Szene um Szene ans Licht spült, ganz ohne Rücksicht auf klassisch lächerliche Konstruktionen wie Chronologie oder kausalen Zusammenhang, sondern auch gleich die erzählte Gegenwart mit sich reißt. Immerhin dümpelt treibholzgleich die ein oder andere sachdienliche Information an der Oberfläche: „Ich“ ist Anfang dreißig, verheiratet, spricht später sogar einmal von „unseren Kindern“ und fährt allein mit ihrem Vater an einen der Urlaubsorte ihrer Kindheit.

Diese Reise ist Anlass dafür, dass sie sich erinnert: An die gespannte Ehe der Eltern und die befreundete Nachbarsfamilie, an das seltsame, womöglich erotische Begehren, das der Ferienhausvermieter Herr Wallbrecht in ihr auslöst und (vielleicht) auch ausnutzt. An die Sommerferien im Tschernobyl-Jahr 1986, als ihre Mutter und ihr kleiner Bruder auf so tragische wie geheimnisvolle Weise bei einer Wattwanderung ums Leben kommen, und an die Zeit, die sie Jahre später, krank vor Verlustschmerz und Einsamkeit, in einer Klinik verbringt. An viele ganz einfache Dinge wie: „Ich habe Schinken auf dem Brot; die anderen Nutella; meins ist in Papier eingewickelt, die anderen haben Frischhaltetüten; ich habe einen Lederranzen, die anderen einen Scout“,und an merkwürdig doppeldeutige: „Als ich klein war, wurde ich sehr oft ohnmächtig. Ständig, so scheint es mir jetzt, war ich ohnmächtig.“

Deshalb oder auch nur weil Erinnerung in Wirklichkeit sprunghaft und nicht nach literarischen Maßstäben erfolgt, reiht Alexa Hennig von Lange melodisch-melancholische Shortcuts nebeneinander, die kreuz und quer durch Zeit und Räume springen. Sie messen Sinneseindrücken mehr Gewicht zu als den in Bruchstücke zerfallenen Ereignissen, und so müssen die an der Haut klebenden Kunstledersitze im Zug und der säuerliche Geruch von Graubrot die Geschichte tragen oder auch „das sanfte Wiegen der Wellen, die schwappende Wasseroberfläche in den Ohrmuscheln. Nur aus Kopf bestand ich, und aus zappelndem Leben.“ Meer, Gefühle – und zwischen schön Formuliertem bleibt großflächig geheimnistuerisches Grau.

Wo das von einer diffusen Vergangenheit beschädigte Ich nur atmosphärische Fragmente liefern kann, ist jedoch im Leser der Hobbypsychologe gefragt. An welche wechselnden Dus wendet sich beispielsweise die Erinnernde? Was geschah wirklich im Wattenmeer, als die Mutter die Tochter zum Strand schickte und allein in die andere Richtung lief, um Vater und Sohn zu suchen? Und was zum Teufel lief mit Wallbrecht? Sobald sich der Verdacht erhärtet, dass die Mutter ein Verhältnis mit dem verheirateten Nachbarn hatte und der kleine Bruder tatsächlich ein Halbbruder war, reimt man sich zusammen, dass der vor Eifersucht zerfressene Vater womöglich nicht wirklich alles an die Rettung der beiden aus dem Wattenmeer gesetzt hat – und dass seine Tochter nicht nur zu Einsamkeitsflashs und Verlassenheitsängsten neigt, sondern wahrscheinlich in familiengeschichtsträchtigem Wiederholungszwang zu Affären oder zumindest Fantasien über Affären mit verheirateten Männern.

Womöglich, wahrscheinlich, möglicherweise – nichts Genaues weiß man eben nicht! Bei der Tiefenlektüre von „Woher ich komme“ kann einen die Erinnerung an die guten alten, entspannt oberflächlichen Zeiten verflixt nostalgisch ankommen.

EVA BEHRENDT

Alexa Hennig von Lange: „Woher ich komme“. Rowohlt Berlin, 2003, 109 Seiten, 14,90 €