Fruchtbar ins Verderben

Die Familie ist nicht gerade ein geeignetes Modell, um einen kapitalistischen Konzern zu führen: Sten Nadolny erzählt in seinem „Ullsteinroman“ die Geschichte der Familie Ullstein und beschreibt präzis den Aufstieg und Niedergang ihres Verlagsimperiums

von JÖRG MAGENAU

An einem Nachmittag im Jahr 1835 fährt der elf Jahre alte Leopold Ullstein mit der neuen Eisenbahn „Adler“ von Fürth nach Nürnberg und zurück. Das ist kein zwingender Auftakt für eine breit angelegte Familien- und Firmenlegende. Er hätte aber, schreibt Nadolny, auch mit König David anfangen können oder mit einem gewissen Raw Kalonymos, der im Jahr 936 dem späteren König Otto ein Pferd lieh. Denn das Individuum ist eine flüchtige Erscheinung. Nadolny betrachtet den Menschen wie die Engstelle in einer Sanduhr: „Ausgedehnte Menschenlandschaften der Vergangenheit nehmen Körnchenform an, um ihn zu passieren, danach breiten sie sich wieder als Nachkommenschaft eindrucksvoll aus.“ Entschlossene Fruchtbarkeit liegt diesem alttestamentarischen Modell patriarchaler Gesellschaftsbildung zugrunde. Also muss der Erzähler auf biblische Muster zurückgreifen, um so etwas Unübersichtliches wie Familie darzustellen: Hajum Hirsch zeugte den Leopold, Leopold zeugte Hans, der zeugte den Karl. Und so weiter. Wie aber macht man daraus einen Roman?

Nadolny erzählt am Leitfaden einer Familie vom Aufstieg und Niedergang des Bürgertums bis hin zur Machtergreifung der Nationalsozialisten. Das ist umso spannender, je näher er dem Jahr 1933 kommt. Wie im Märchen hat man als Leser auch bei der hundertsten Hitler-Wiederholung die Hoffnung, es möge diesmal gut ausgehen. Es geht schlecht aus, und Nadolny versucht zu zeigen, warum. Dabei bleibt er aber im näheren Umkreis der Verwandtschaftsverhältnisse. Was außerhalb geschieht, gerät nur mühsam in den Blick. Selbst der Antisemitismus ist lange nur ein Nebenthema, weil der in der wilhelminischen Gesellschaft vorhandene Judenhass die mächtige Familie Ullstein kaum erreichte. Erst nach 1933 spürt sie die Gewalt mit voller Wucht.

Im Zentrum des „Ullsteinromans“ steht der Gründervater Leopold Ullstein. Auf ihn läuft die Familiengeschichte zu, auf ihn beziehen sich alle späteren. Dieser Sohn eines Papierhändlers aus Fürth, dem „fränkischen Jerusalem“, zog nach Berlin, um dort ein Zeitungsimperium aufzubauen. Aus Gründen der Nachhaltigkeit zeugte er nebenbei in zwei Ehen insgesamt fünf Söhne und fünf Töchter. Die Söhne übernahmen nach Leopolds Tod im Jahr 1900 das Geschäft. Die Töchter und die Ehefrauen der Söhne waren damit befasst, eine stattliche Zahl von Enkeln in die Welt zu setzen, auf dass mit ihnen Macht und Reichtum sich mehre. Keine leichte Aufgabe für den Romancier, da den Überblick zu behalten und Figuren entstehen zu lassen, die mehr sind als Stammhalter. Als Leser wäre man ohne den weit verzweigten Stammbaum im Anhang ziemlich verloren.

Allzu große Fruchtbarkeit ist der Tod des Familienromans. Paradoxerweise begann auch das Ullstein-Verlagsimperium gerade wegen der zu zahlreichen Nachkommenschaft zu zerbrechen. In der Ökonomie gelten andere Gesetze als in der Biologie. Spätestens mit der Enkelgeneration setzten in den Zwanzigerjahren die Diadochenkämpfe ein, versuchten die Männchen sich gegenseitig wegzubeißen. Während die Nazis unerbittlich an Stärke gewannen, diskutierten die Brüder darüber, ob man sie ignorieren oder mit kämpferischer Publizistik angreifen solle. Doch ernsthaft bekämpften sie nur sich selbst. Der Untergang des Hauses Ullstein begann nicht erst 1933, als die Familie bald schon enteignet und nach und nach ins Exil getrieben wurde. Das ist die überraschende Pointe Nadolnys: Die Familie ist auf Dauer kein geeignetes Modell, um einen kapitalistischen Konzern zu führen.

Nadolny schreibt so nüchtern und so dröge wie ein Buchhalter. Er schöpft aus Familienbriefen, Fotos und Memoiren und bringt alle Details, deren er habhaft werden konnte. So bestimmt die Quellenlage das Romangeschehen. Nichtigkeiten dominieren und machen die Lektüre besonders in der ersten Hälfte mühsam und langatmig. Man erfährt, wann Ehefrau Matilda in Urlaub fuhr, weiß aber nicht, warum man das wissen soll. Man erfährt, welche Nummer das Lotterielos Leopolds hatte oder was Hans dachte, als er am Strand von Helgoland stand. Das ist deshalb so uninteressant, weil es Nadolny nur selten gelingt, wirkliches Interesse für seine Figuren hervorzurufen und zu demonstrieren, worin der literarische Mehrwert dieses Romans bestehen könnte. Also bleibt nur das Faktische: die Firmen- und Zeitgeschichte.

1903 gründeten die Brüder Ullstein den ersten Buchverlag des Hauses, zunächst nur deshalb, um die seichten Fortsetzungsromane ihrer Zeitungen (BZ, Morgenpost, Berliner Zeitung) noch einmal zu verwerten. Daraus wurde bald die zweite Erfolgsgeschichte des Verlags. „Im Westen nichts Neues“, einer der größten Bestseller in der Weimarer Republik, erschien bei Ullstein. Der hundertste Geburtstag des Buchverlags ist nun der äußere Anlass für Nadolnys „Ullsteinroman“. Im Jubiläumsprogramm nimmt er die Rolle einer Festschrift ein. Die Frage, ob das, was vom Traditionshaus in der Verlagsgruppe Ullstein Heyne List übrig geblieben ist, tatsächlich bald dem schwedischen Medienunternehmen Bonnier gehört, beantwortet in Kürze das Kartellamt. Das Kapital hat Familien längst abgeschafft, möchte aber doch vom vergangenen Glanz ein wenig profitieren. Die Familiengeschichte aus der Gründerzeit ist da bloß noch eine ferne Legende, die in der Epoche der Globalisierung dazu dient, einer Marke ihren klingenden Namen zu verleihen.

Sten Nadolny: „Ullsteinroman“. Ullstein Verlag, München 2003, 496 Seiten, 24 €