Vergangenheit, sprich

Das Reden über die Vergangenheit darf nicht enden, noch viel besser aber ist es, darüber auch schreiben und nachvollziehbare Gegenwart produzieren zu können: In der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur dominieren im Moment die Familienromane

von GERRIT BARTELS

Die Familie wird man nirgends so schnell los. Auch nicht im „Zentrum des Nirgendwos“, wie die Mittdreißigerin Liz ihre neue Heimat im Mittleren Westen der USA gern nennt, das Universitätsstädtchen Blossom, Indiana. Hier arbeitet die Deutsche als Dozentin für kreatives Schreiben, und hier sind ihr die familiären Wurzeln genauso präsent wie die jede Nacht bunt leuchtenden Reklameschilder von Butterfield, Red Lobster oder Häagen Dazs. Immer wieder steigen in Liz die Erinnerungen an die Mutter auf: an deren Schweigen bezüglich des Selbstmordes der Großmutter, der genau auf den Tag von Liz’ Geburt fiel; an die eher zufälligen Bemerkungen der Mutter über die unsteten Leben der Großmutter Lina und der Urgroßmutter Sophie zwischen Russland, China, Amerika und Deutschland.

Dieses Schweigen der Mutter hindere sie am Leben genauso wie am Schreiben, sagt ihr eines Abends eine Freundin auf den Kopf zu. Liz begibt sich auf die Spuren ihrer Vorfahren: um Licht ins familiäre Dunkel zu bringen, um zu verhindern, dass „das nie Erzählte, das Verborgene“ auf immer verschwindet, und um einen Roman über Sophie und Lina zu schreiben.

Ein Roman, der vom allmählichen Zustandekommen eines Familienromans erzählt – Christa Heins „Vom Rand der Welt“ liest sich wie die Blaupause eines aktuellen Trends in der deutschsprachigen Literatur: Familienromane haben Hochkonjunktur. Ein großes Erinnern hat angehoben, ein intensives Forschen in der Vergangenheit und den Familien, all das mündend in ausladenden Erzählungen. Aus der deutschen Gegenwartsliteratur ist eine Vergangenheitsaufarbeitungsliteratur geworden.

Beteiligt sind daran Autoren und Autorinnen aus allen Generationen: ob nun jüngere wie Olaf Müller oder Tanja Dückers, ob nun ein stämmiger Alt-68er wie Uwe Timm, ob nun die allesamt in den Fünfzigern geborenen Stephan Wackwitz, Steffen Mensching, Sten Nadolny, Ulla Hahn oder Birgit Bauer, um nur einige zu nennen.

Man kann darin einen willentlichen Reflex auf den Niedergang der Popliteratur sehen; man kann diese Entwicklung als Suche nach einem erzählerischen Halt in unsicheren und depressionsgeplagten Zeiten verstehen; und als Gewinn von Substanz, selbst wenn diese eine trübe, schuldbeladene ist – ganz sicher aber regieren statt Ideologie viel Neugierde und Unbekümmertheit, aber auch Sorgfalt und Vorsicht: Keiner der Autoren möchte aus Tätern Opfern machen oder gar falschen Seiten zuarbeiten.

So sind die Romane „Unscharfe Bilder“ von Ulla Hahn und „Im Federhaus der Zeit“ von Birgit Bauer, die man am ehesten unter der Formel „Deutschland einig Opferland“ missverstehen könnte, zuvörderst individuelle Befreiungsakte, persönliche Emanzipationsromane, in denen sich die Kinder vom Schweigen der Eltern befreien wollen: „Lisa fühlt sehr wohl das Recht“, heißt es bei Bauer, „Erklärungen einzufordern, wo deine Lügen, dein Verschweigen, sie gefangenhalten.“ Beide Romane zeigen, wie die Nazizeit Biografien durch Generationen hindurch beeinflusst und bis heute nachwirkt. Oder, um es mit Alban Nikolai Herbst zu sagen, der als Großneffe Joachim von Ribbentrops ganz prominent unter der Last leidet und das in seinem inzwischen teilverbotenen Liebesroman „Meere“ eingewoben hat: „Ich trug die deutsche Geschichte wie eine Plakette auf der Stirn.“

In „Das Federhaus der Zeit“ muss Lisa Anfang der Sechziger bis zu ihrem neunten Lebensjahr in Heimen aufwachsen. Sie wird von der Mutter ob ihrer Herkunft lange im Ungewissen gelassen. Also beginnt sie mit Nachforschungen über sich und das Leben der Mutter: Diese kommt als Lebensbornkind zur Welt, als „Zuchtkind“, und leidet unter diesem Makel, als junges Mädchen in einer Pflegefamilie im Stralsund der Kriegs- und Nachkriegsjahre und später auch als erwachsene Frau.

Bauer erzählt eindringlich, mit kurzen Sätzen und im Fall der Mutter in der persönlichen, sich selbst ansprechenden zweiten Person Singular; sie erzählt, wie sehr sich Leben und Charakter von Mutter und Tochter ähneln, wie sehr die Beziehung der beiden von Schweigen und Misstrauen geprägt ist.

In Ulla Hahns Roman „Unscharfe Bilder“ ist es eine 48 Jahre alte Frau, die ihrem Vater dessen russische Kriegserinnerungen förmlich herauspresst. Der Grund: ein Foto, das sie im Katalog der Wehrmachtssausstellung „Verbrechen im Osten“ entdeckt hat und auf dem sie den Vater bei einer Erschießung von Partisanen zu erkennen meint. Es dauert lange, bis der Vater mit der ganzen Wahrheit rausrückt. Als jemand, „der immer dagegen, aber immer dabei“ war, wird er von Hahn erstaunlich einfühlsam geschildert, während seine Tochter eher anklagend und verständnislos auf seine mitunter schrecklichen Kriegserlebnisse reagiert. Auch ihr geht es in diesem pädagogisch anmutenden Buch vor allem um Aufklärung: Vergessen und Verdrängen sind für sie keine psychischen Erfolgsmodelle, wie sie an sich selbst bemerkt. Am Ende ist klar: „Das Reden würde nicht enden.“

Lesen sich Hahns und Bauers Romane als genuin deutsche Nabelschauen, beschränkt sich ein Teil der literarischen Familienforschung nicht nur auf Deutschland: Christa Heins Roman streift vom Rand der Welt auch Deutschland nur am Rand, da Liz die amerikanischen Spuren ihrer Großmutter verfolgt, in Virginia, Nebraska, Chicago, Boston. „Vom Rand der Welt“ ist so auch ein Roman über Amerika, das amerikanische Hinterland und die Rastlosigkeit der Amerikaner, in der sich das Leben von Liz und ihren Vorfahren spiegelt.

Mit der Spiegelung von Zeiten und Welten hat es auch Klaus Modick in seinem Roman „Der kretische Gast“. Dieser besteht zum einen aus der Geschichte des jungen Archäologen Johannes Martens, der 1943 bei der Bombardierung Lübecks Frau und Eltern verliert und nun versehen mit einem kunsthistorischen Auftrag versucht, in dem von den Deutschen besetzten Kreta den Krieg zu überstehen. Parallel dazu erzählt Modick, wie sich der Student Lukas Hollbach 1975 auf den Weg nach Kreta macht. Anhand von zwei auf dem Flohmarkt entdeckten alten Fotos erkundet der junge Hollbach das Schicksal von Martens und schließlich auch das des eigenen Vaters, der 1943 auf Kreta als Leutnant stationiert war.

Es geht turbulent zu in Modicks Roman und manchmal doppeln sich kitschig-kolportagehaft die Erlebnisse von Martens und Hollbach. Doch mehr noch als die Kriegswirren scheint Modick die Schönheiten Kretas hervorheben zu wollen, was teilweise zu ermüdenden Aufzählungen führt: die Gerüche, das Klima, die natürlichen Schätze. Modicks Verlag bewirbt den Roman folgerichtig als „Liebeserklärung an Kreta“, die aber erst durch Krieg und Spurensuche richtig interessant wird: die Vergangenheit als literarischer Selbstläufer. Schwerer wäre es für Modick gewesen, seine Liebeserklärung im Kreta der Gegenwart anzusiedeln. Mit was für einer Geschichte hätte er sie transportieren sollen? Etwa wie der Massentourismus gewachsene dörfliche Strukturen zerstört?

Die Gegenwart mag ein bunt flimmernder, vielgestaltiger Kosmos sein, aber sie ist schon durch die Popliteratur exakt vermessen worden und wird es weiterhin von der übermächtigen So manche literarische Figur erfährt dabei eine Aufladung und eine Bedeutung, die ihr zwischen MTV und der globalisierten Glitzerwelt der Marken locker verloren ginge.

Man merkt das auch bei der Österreicherin Anna Mitgutsch. In ihrem Roman „Familienfest“ entwickelt sie die Geschichte einer amerikanisch-jüdischen Familie namens Leondouri. Zentrum dieser Familie ist Edna Leondouri, deren Leben sich über das gesamte 20. Jahrhundert erstreckt. Edna, ganz große Dame, verkörpert das Leben der Leondouris zurück bis ins 19. Jahrhundert: ein kämpferisches, unstetes, im Nachhinein aber aufregendes Leben. Das dagegen von Marvin, einem älteren Großneffen Ednas, und von Adina, einer jungen Großnichte, denen die anderen großen Kapitel des Buches gewidmet sind, stellt sich blass da: Marvins Ehebruch mit einer Russin per Internet, Adinas Alltag zwischen Schule, Rumhängen in Shopping-Malls und erstem Sex – da hat Mitgutsch Mühe, nach fulminantem Start das Interesse an ihren Figuren wachzuhalten. Die Gegenwart ist klein und grau im Vergleich zur großen, weiträumigen Vergangenheit, die Edna mit schönen Erzählungen alljährlich zum Pessach-Seder zum Leben zu erwecken vermag.

Adina nun fände es gut, ginge es mit der Familie zu Ende; „wenn Edna jedoch Geschichten aus ihrer persönlichen Vergangenheit erzählte, die sie am Sedertisch verschwieg, hörte Adina ihr begierig zu, sie wurden nachvollziehbare Gegenwart und gingen ihr nah wie ihr eigenes Leben“.

Viel weiter als die jüngeren Mitglieder der Leondouri-Sippe, die mit Ednas Tod allein und orientierungslos schlingernd zwischen jüdischer Kultur und amerikanischem Alltag gelassen werden, ist da die Protagonistin aus Christa Heins Roman: Liz schafft es irgendwann, sich frei von belastenden familiären Bindungen zu fühlen und „über verschiedene Vergangenheiten zu verfügen“. Ihr Roman über die Urgroßmutter nimmt Gestalt an – ein Roman, den Hein 1998 unter dem Titel „Der Blick durch den Spiegel“ veröffentlicht hat. Am Ende dient eben alle Vergangenheit und alle Erinnerung vor allem: der Literatur.

Christa Hein: „Vom Rand der Welt“, FVA, Frankfurt 2003, 452 S., 19,90 €; Birgit Bauer: „Im Federhaus der Zeit“, 383 S., 19,90 €, und Ulla Hahn: „Unscharfe Bilder“, 276 S., 18,90 €, beide DVA, München 2003; Klaus Modick: „Der kretische Gast“, Eichborn, Frankfurt 2003, 454 S., 19,90 €; Anna Mitgutsch: „Familienfest“, Luchterhand, München 2003, 413 S., 22,50 €Konkurrenz anderer Medien. Die Verknüpfung vom Privaten mit Zeitgeschichte macht mehr her.