Bei weitem nicht so wichtig

Im amerikanischen Hamilton geht derzeit die Rad-WM über die Bühne. Da Lance Armstrong undJan Ullrich fehlen, dürfen sich die werdenden Weltmeister keineswegs als die Weltbesten fühlen

aus Hamilton SEBASTIAN MOLL

Ein Weltmeistertitel ist eine Zierde für jeden Radrennfahrer-Lebenslauf. Jan Ullrich und Lance Armstrong haben diesen Punkt schon früh in ihrem Werdegang abgehakt: 1993 wurde Jan Ullrich als 20-Jähriger der jüngste Amateur-Weltmeister aller Zeiten; im selben Jahr der 22-jährige Armstrong Weltmeister der Profis. Seither belasten die beiden ihren Terminkalender nur noch sporadisch mit einer WM – sie haben Besseres zu tun.

Auch die Titelkämpfe in Hamilton am Westufer des Ontariosees, die an diesem Montag begonnen haben, müssen ohne die beiden derzeit prominentesten Radsportler auskommen. Seit seinem Comeback 1999 meidet Armstrong den Termin im Oktober – schließlich beginnt seine Vorbereitung auf die nächste Tour de France schon im November. Ullrich tut es seinem Rivalen zumeist gleich – nur 1999 und 2001 ging er an den Start und gewann jeweils das Zeitfahren. Der Mann, der in Hamilton Weltmeister der Straßenprofis wird, kann sich wohl schon alleine deshalb kaum als der beste Radfahrer der Welt bezeichnen. Was aber bedeutet ein Weltmeistertitel im Radsport dann? Hans-Michael Holczer, Chef des deutschen Rennstalls Gerolsteiner, hat darauf eine eher ernüchternde Antwort: „Weltmeister ist der, der am Tag X in der Form Y ist und den Zug Z erwischt.“

Doch selbst Holczer gibt zu, dass das nicht die ganze Wahrheit ist: „Für mich ist die Weltmeisterschaft natürlich bei weitem nicht so wichtig wie die Tour de France“, sagt Holczer, ein besonderes Rennen sei die WM dennoch. Allerdings, so der abgeklärte Schwabe, nicht etwa weil der sportliche Wert besonders hoch sei oder das Flair die Weltspiele aus der Flut von Profi-Rennen zwischen Februar und Oktober heraushebe: „Das ist keine ideelle Schauveranstaltung. Eine WM legt ganz knallhart den Marktwert eines Fahrers fest.“

Holczers Kollege beim Team Telekom, Walter Godefroot, sieht das anders. Zu seiner Zeit als Profi, in den Sechziger- und Siebzigerjahren, so Godefroot, habe der Weltmeistertitel noch unmittelbaren Einfluss auf das Einkommen eines Rennfahrers gehabt: „Damals haben die Antrittsgelder noch rund 60 Prozent des Jahreseinkommens ausgemacht. Und mit dem Weltmeistertrikot bekam man deutlich höhere Gagen.“ Heute, so Godefroot, sei hingegen das Salär der meisten Profis bei ihren Teams so hoch, dass die Antrittsgelder keine Rolle mehr spielten.

Nein, der Weltmeistertitel, so Godefroot, das sei ein Wert an sich: „Das ist doch das Allerschönste: Weltmeister zu werden.“ Deshalb ist sein aussichtsreichster Fahrer, Erik Zabel, auch „richtig motiviert“. Er möchte es in Hamilton seinem Erzrivalen Mario Cipollini gleich tun, der im vergangenen Jahr mit dem Gewinn des Weltmeister-Trikots seine Laufbahn abrundete. In diesem Jahr ist Cipollini jedoch nicht dabei und Zabels Form wird immer besser, je länger die Saison dauert: Nach einem blassen Frühjahr und einer verkorksten Tour de France kam Zabel zuletzt bei der Spanienrundfahrt in Schwung und gewann zwei Etappen – und zuletzt das Weltcuprennen Paris–Tours. Zabel ist ein Fahrertyp wie Udo Bölts, einer, für den die Saison nicht lang genug sein kann: „Man denkt das ganze Jahr eigentlich nicht an die WM“, erinnert sich Bölts, der immerhin einmal WM-Vierter war. „Aber wenn’s dann September wird, will man doch hin und gut aussehen.“

Für die beiden Gerolsteiner-Fahrer Michael Rich und Uwe Peschel ist die WM gar das wichtigste Ereignis des Jahres: Beide sind absolute Spezialisten für das Zeitfahren. Und für reine Zeitfahrer ist die Konkurrenz gegen die Uhr am Donnerstag eine der wenigen Gelegenheiten im Jahr, ihre Spezialbegabung zu demonstrieren.

Wirklich um alles, so Hans-Michael Holczer, geht es bei der WM allerdings nur für die Espoirs-Kategorie der unter 23-Jährigen: Bei der WM können sie sich für einen Profivertrag empfehlen. Wie etwa Sebastian Lang, der mit seiner Silbermedaille von Lissabon vor zwei Jahren noch in letzter Sekunde einen Vertrag bei Gerolsteiner ergatterte. Der Gelegenheitskauf stellte sich für Holczer als Schnäppchen heraus: Lang gewann gleich in seiner ersten Profi-Saison die Dänemark-Rundfahrt.

Walter Godefroot arbeitet unterdessen daran, dass sich der Weltmeister in Zukunft auch wirklich als Bester der Besten bezeichnen kann. In den Gremien des Radsportverbandes UCI setzte sich Godefroot dafür ein, dass ab 2005 die WM zwei Wochen früher stattfindet. Damit soll die Tür für Tour-de-France-Stars geöffnet werden, die im Oktober meist schon im Urlaub sind. Dass Ullrich und Armstrong ihr Duell dann bis im Herbst fortsetzen, bleibt allerdings trotzdem zweifelhaft. Auch wenn Godefroot im kommenden Jahr wieder Ullrichs Chef ist.