Der Junge und das Kopftuch

DAS SCHLAGLOCH von KERSTIN DECKER

Vielleicht ist die Offenheit unserer Gesellschaft nicht nur unser Vorzug, sondern auch unser Problem

Der kleine Türkenjunge steht mit seinem Fahrrad an der Ampel, er will über die Straße, überlegt es sich aber. „Fick deine Mutter!“, brüllt er in unsere Richtung und haut das Rad dabei wegen des Nachdrucks gegen die Ampel. Der Empfänger des Aufrufs bleibt unsichtbar. Die Türkinnen, die mit Kopftuch und langen Mänteln an der Ampel und den Gästen des Straßencafés vorbeilaufen, drehen sich nicht um. Vielleicht verstehen sie kein Deutsch. Für Kopftuchmütter, denken wir zum ersten Mal, ist das vielleicht auch besser. Außerdem sind sie wohl nicht seine Mütter. Also nicht gemeint. Die türkischen Männer auf der anderen Straßenseite lassen sich auch nichts anmerken. Nur wir schauen noch einmal ausführlich nach dem Fick-deine …- Rufer. Acht Jahre. Höchstens neun.

Das fast doppelt so alte Kind an unserem Tisch sagt, wir sollen uns mal wieder einkriegen und es gäbe wirklich keinen Grund, hier derart aufzufallen. Junge Türken reden so, nicht gewusst? Aber der ist doch viel zu klein, verteidigen wir uns, der weiß doch noch gar nicht, was er sagt! Das Kind am Tisch hebt genervt die Augenbrauen: Das tun die meisten Menschen, oder? Jetzt klingt das eigene Kind schon fast wie Adorno.

Der Kleine mit dem Fahrrad geht jetzt bestimmt nach Hause zu seiner Kopftuchmutter. Eigentlich, überlege ich, hat das Kopftuch viel mehr mit dem Fick-deine …-Satz zu tun als mit Religion. Zumindest das haben wir Nichtmuslime in den letzten Wochen des Kopftuchstreits gelernt. Kopftuch oder nicht – dem Koran ist das egal. Aber das Tuch ist ein Symbol weiblicher Reinheit und Unberührtheit. Etwas stimmt also nicht, wenn ein kleiner Fick-deine …- Rufer nach Hause kommt zu einer Kopftuch-Mutter.

Die Feministinnen könnten das jetzt bestimmt erklären. Es liegt an der Doppelmoral in den patriarchalischen Gesellschaften, würden sie sagen. Aber so ein kleiner Junge, ein Träger der Doppelmoral? Bei solchen Nachfragen schauen Feministinnen gewöhnlich noch genervter als das eigene Adorno-Kind.

Aber haben wir die kulturelle Funktion einer Doppelmoral überhaupt schon richtig begriffen? Und soll die Mutter jetzt einfach das Kopftuch abnehmen, um ein vollwertiges Mitglied der aufgeklärten Welt zu werden? Machen wir doch noch einmal den Versuch, die Kopftuchfrauen zu verstehen. Versuche, sie nicht zu verstehen, gab es schon genug. Und am Ende probieren wir ein Plädoyer für die Doppelmoral. Vielleicht ist sie ja auch eine Verschonungsmoral?

Die Muslime haben es schon deshalb viel schwerer, heute den Weg der Aufklärung zu gehen, weil sie uns als schlechtes Beispiel für eine Ankunft ja immer schon vor Augen haben. Als der Westen vor vielen hundert Jahren aufbrach in die Aufklärung, hatte er als Reiseproviant alle Illusionen, die man braucht, um solche langen Wege zu überstehen. Und die Nachhut marschierte erst in den Sechzigerjahren los. Oswalt Kolle zum Beispiel. Der ist jetzt auch schon 75 und war darum vorgestern bei Beckmann. Ein typischer Aufklärer, zugleich Hedonist, das macht ihn so sympathisch. Und doch ist das Ergebnis bedenklich.

Denn was steht am Ende der sexuellen Revolution? Die selbstbewusst schamlose Gesellschaft. Und da jede Religion Kultivierung der Scham ist (wenn auch auf vormundschaftlicher Basis), muss das natürlich Menschen auffallen, die die Religion noch nicht hinter sich haben. Es genügt aber auch, in der DDR gelebt zu haben, um die Wirkung zu verstehen. Das eigentliche Datum der deutschen Einheit war ohnehin nicht der 3. Oktober 1990, sondern der Tag der Währungsunion. In der DDR sind wir am Abend des 30. Juni eingeschlafen, und am 1. Juli in einer durchgynäkologisierten Gesellschaft aufgewacht. Wie die Zeitschriftenabteilungen plötzlich aussahen! Ganze Regale voller Brüste, von einem Tag auf den anderen. Der Westen, begriffen wir, ist dort, wo es von allem zu viel gibt, auch von Brüsten.

Kinder, die fortan über einer Videothek wohnten, zeigten bald Auffälligkeiten. Die Videothek hatte den Hinweis auf ihre Erotikabteilung sehr eindrucksvoll im Schaufenster ausgestellt, was die kindliche Auffassung zur Folge hatte, einigermaßen zurechnungsfähige Menschen könnten keinen Sex haben. Sex sei etwas für Debile. Früher Obszönitätsschock. Wir leben in einer offen obszönen Gesellschaft. Und dorthin sollen sich die anderen nun aufmachen?

Offenheit gilt als das Positivum schlechthin. Aber vielleicht ist unsere Offenheit nicht nur unser Vorzug, sondern auch unser Problem. Der Markt ist offen, Aufklärer sind auch offen, Kolle oder die Feministinnen. Das Ideal der Gesellschaft ist, alles offen zu legen und dann darüber zu reden (Habermas!). Aber genau das funktioniert nicht. Die Gegenaufklärer haben das schon immer geahnt. Man kann einem anderen nichts Neues sagen, man kann ihm immer nur sagen, was er schon weiß. Darum kann man keine Kopftuchträgerin auf diskursivem Wege zur Nichtkopftuchträgerin machen. Darum sind Religionen so schwer aufklärbar. Gerade wenn sie die Schattenseiten der Offenheit schon früher kennen lernen als die Offenheit selbst.

Denn das Offenlegen ist für manche Güter nur bedingt geeignet. Manche verderben schnell an der allzu frischen Luft. Die Erotik zum Beispiel, auch wenn der allgemeine Sprachgebrauch übereingekommen ist, die allgegenwärtige Halbpornografie im öffentlichen Raum Erotik zu nennen. Wir meinen jetzt aber die wirkliche. Wenn man dem Feminismus wie der Aufklärung etwas vorwerfen kann, dann wohl, dass sie zu den grundsätzlich unerotischen Dingen des Lebens zählen. Ist Erotik nicht ein Bedeckungsphänomen? Und ein Fremdheitsphänomen? „Deine Frau, das unbekannte Wesen“, „Dein Mann, das unbekannte Wesen“ hießen Kolles Filme. Typische Aufklärer-Titel. Das Bekanntmachen des Unbekannten ist das Ziel aller Aufklärung. Aber Erotik lebt von Momenten der Fremdheit. Nackte Tatsachen sind nur ausnahmsweise erotisch. Und genau darum ist unsere durchsexualisierte Gesellschaft, jeder weiß es, in Wahrheit so entsexualisiert. Niemand hat das so geärgert wie das Elementarteilchen Michel Houellebecq: Man muss Gott haben oder einen Orgasmus, hatte er gefordert. – Nur die Gedankenlosen halten das für eine islamfeindliche Äußerung. Haben die Muslime vielleicht sogar beides, zumindest die Männer? Aber Houellebecq wollte ohnehin nicht den Islam treffen, sondern uns: Im Liberalismus habe man weder noch. Keinen Gott und keinen Orgasmus. Ein schlimmer Befund.

Kopftuch oder nicht, dem Koran istdas egal. Das Tuchist ein Symbolder Unberührtheit

Dazu kommt, dass die Kolleianer – und das sind wir schließlich am Ende alle – nach Art der Aufklärer eine etwas naive Weltsicht kultivieren. Sie halten Sex für das Gute an sich. Sie nennen die sexuelle Sphäre Intimsphäre, dabei hat Sex die Intimitätswerte eines Ringkampfes.

Die Religionen speichern dagegen das Wissen um den zwiespältigen Charakter des Sexuellen. Sie sind bloß unfähig, es auch auszudrücken. Denn keine Religion, solange sie eine ist, ist reflexiv. Es offenbart seine Trägerinnen als Agentinnen einer Sexualität, die ihnen nicht gehört. Aber eine neue Doppelmoral wäre doch eine überlegenswerte Sache.

Als Bedeckungs- und Verschonungsmoral.

Fotohinweis: Kerstin Decker lebt in Berlin; sie schreibt Reportagen und Essays