Aufruhr der Gefühle

„Sonntagsausflug“ – Fotografische Leidenschaften im Herbst 2004 in Braunschweig, Gifhorn und Wolfsburg. Die Fotomuseen des Okerklandes

„Das ist physikalisch unmöglich, dafür müsste man Stahlfüße haben!“

An den Wänden die aktuelle Ausstellung, fotografierte Leidenschaften, die das Nervenkostüm des Besuchers im Braunschweiger Museum für Fotografie strapazieren: zwischen Sex auf öffentlichen Toiletten und verschwitzten Männern am Ende ihrer Kräfte. Auf der Couch vor den Bildern werden dem müden Kunstbetrachter die Augen mit einer Sandsack-Brille geschlossen. Mit wichtiger Miene erklärt der Stuttgarter Künstler Gerhard Winter die „visutoxische“ Wirkung von Museen. „Augentrost“ heißt seine Therapie. Tapfer klemmt der Besucher-Patient die Augenbadewanne zwischen Wange und Braue und lässt eine Substanz namens Euphrasia Ophtopul in seine Augen schwappen. Die Versuchsperson darf ihre Tränen trocknen. Eine irritiert-amüsierte Zuschauertraube blickt auf den Patienten. Glasige, leicht gerötete Augen, sonst keine äußerlichen Veränderungen. Gewappnet soll man so sein gegen den Kunst-Overkill, den „Sonntagsausflug“, den das Braunschweiger Museum für Fotografie mit Partnern aus Braunschweig, Wolfsburg und Gifhorn veranstaltet.

Kostenlose Shuttlebusse verkehren im Stundentakt zwischen zwölf Ausstellungsorten der Region. Sollten sie zumindest. 13 Uhr: kein Bus in Sicht. Also noch einmal ins Fotografie-Museum: „Aufruhr der Gefühle“. Jenny Holzers auf nackte Haut geschriebene Sprüche von Tätern und Opfern sexueller Kriegsverbrechen: Da sträuben sich die Härchen auf der eigenen Haut bei jedem Hinsehen wieder. James Higginson zeigt ein lesbisches schwarzes Hollywood-Paar beim Posieren für eine glamouröse Homestory: Blut und Tränen fließen, Deko-Objekte werden zur Waffe.

Um die regionalen Pilgerstätten der Fotografiegeschichte näher zusammenzuführen, sei der Sonntagsausflug ein Pilotprojekt, erzählt Barbara Lauterbach vom Fotografiemuseum. Mit Erschrecken habe sie festgestellt, dass die Wolfsburger Kunst- und Autofreunde bisher kaum den Weg nach Braunschweig fanden: „Die sagen, sie finden hier keinen Parkplatz.“ Mit dem „Sonntagsausflug“-Experiment wolle man in die Zukunft weisen: In der Stadt der Traditions-Kamerabauer Rollei und Voigtländer soll ein regionales Foto-Medien-Kompetenzzentrum entstehen. Die Braunschweiger Kulturhauptstadt-Bewerbung kündigt es schon einmal an.

14 Uhr: Ein Aufschrei geht durch die Ausstellungsräume: Ein Bus ist da! Ziel: Wolfsburger Schloss. Dort hat das Institut Heidersberger, das sonst nur Eingeweihten nach Voranmeldung offen steht, seine Türen geöffnet. Heinrich Heidersberger, 98-jähriges Urgestein der Fotografie, hat den Pariser Surrealisten und dem Stab Albert Speers angehört, bevor er sich in den 60er Jahren in Wolfsburg niederließ. Was einen Mann von Welt hier hält? „Wenn ich mir den Bildband anschaue, den er damals über Wolfsburg gemacht hat, verstehe ich das“, sagt Bernd Rodrian, Leiter des Archivs. Auf den Schwarz-Weiß-Fotografien wimmelt die Stadt: von unzähligen VW-Käfern, von Menschen-Massen, die zur Arbeit eilen. In den Fertigungsstraßen von VW liegt die Anatomie des Käfers: hilflose, hohle Körper, zierlich geschwungene Flügel. Jetzt aber schnell.

Um 16.10 Uhr soll es weitergehen. 16.30 Uhr: Immer noch kein Bus in Sicht. Die Rettung sitzt auf Klappstühlen vor dem Schlosstor. Oberbürgermeister Frank Helmut Zaddach bietet sich als Taxi-Chauffeur an. Auf nach Gifhorn. 17.15 Uhr: Diese Ruhe!

In meditativer Einsamkeit die Fotografien von Zhou Fei im Gifhorner Kunstverein genießen. Alltägliche Straßen- und Parkansichten aus China. Fotos, in denen unversehens ein Paar nackter Füße hoch auf einer Straßenlaterne auftaucht. Die Gestalt der Künstlerin wandelt mit wehendem Haar über Stromleitungen, Seerosenblätter und Sonnenschirme. Ein Besucher freut sich, dass er den Haken an der Sache entdeckt hat: „Das ist physikalisch unmöglich, dafür müsste man Stahlfüße haben!“

Bereitwillig erklärt Zhou Fei, wie ihre Bilder entstehen. Im Studio baut sie die gleiche Kameraperspektive wie draußen auf, um sich selbst abzulichten. Dann kopiert sie ihr Bild in die Szene hinein.

18 Uhr: geschafft! Wenn auch nicht so viel wie die bulgarischen Studenten im Bus, die zu dem kompletten Wolfsburger und Gifhorner Programm noch das dortige Mühlenmuseum abgegrast haben. Annedore Beelte