Besuch bei einer guten Freundin

Authentizität ist harte Arbeit. Und sieht doch in den fotografischen Inszenierungen der französischen Künstlerin Sophie Calle federleicht aus. Zurzeit bieten zwei Berliner Ausstellungen Einblicke in ihre kühnen Verwischungen von Kunst und Privatleben

VON TIM ACKERMANN

Sophie Calle und ich sind dicke Freunde: Ich habe sie nicht nur zum Psychiater begleitet und beim Striptease beobachtet. Ich war auch eine Nacht mit ihr auf dem Eiffelturm. Über die Jahre habe ich Sophie ganz gut kennen gelernt, wenn auch ausschließlich über ihre Kunstwerke.

Aufgrund eines Besuches ihrer Ausstellung eine Künstlerin gleich als Intimfreundin zu bezeichnen, ist gewagt, liegt im Fall von Sophie Calle aber nahe. Schließlich kann man sich wirklich einbilden, Calle in ihren Arbeiten kennen zu lernen, überschreitet sie doch beständig die Trennlinie zum eigenen Privatleben. Sie verwandelt Aspekte ihrer Biografie und Details aus dem Leben Fremder in Kunst und erzeugt so die trügerische Illusion wahrhaftiger Intimität.

Obwohl die Französin mit ihrem autobiografischen Ansatz in den 80er- und 90er-Jahren wichtige Akzente im Bereich der Konzeptkunst setzte, kam die diskursinterne Anerkennung schleppend. Im letzten Jahr widmete ihr das Centre Pompidou in Paris endlich eine repräsentative Einzelausstellung (siehe taz vom 28. 1. 2004). „M’as-tu vue?“ heißt die Schau, die jetzt vom Martin-Gropius-Bau übernommen wird. Eine rhetorische Frage: Außer im Gropius-Bau ist Calle auch in der Galerie Arndt & Partner zu sehen, die die Künstlerin seit acht Jahren in Berlin vertritt und ihr zurzeit die fünfte Einzelausstellung widmet.

Letztere zeigt einen wunderschönen, beispielhaften Werkzyklus: „Des histoires vraies“ wird stetig fortgesetzt und umfasst mittlerweile 30 „wahre“ Geschichten aus dem Leben der Sophie Calle. Ein Haufen Intimitäten jeweils verpackt in zehn bis zwanzig anekdotischen Textzeilen, die gut lesbar an der Wand prangen. Darunter befindet sich stets ein illustratives Foto.

Dieser geballte Einblick in Privates kann beim Betrachter Misstrauen entstehen lassen – zumal in Zeiten, in denen ganze Bevölkerungsgruppen im Nachmittagsfernsehen zum kollektiven Seelen-Striptease antreten. Bei Calles Arbeiten geht es jedoch nicht um die maßlose Beichte per se. In Interviews betont die Künstlerin stets, dass sie gezielt traurige Erlebnisse zum Gegenstand ihrer Kunst macht, dass sie Erinnerung bewusst verkürzt darstellt und dass sie bei einigen Projekten gewisse Textpassagen frei erfunden hat. Die zwangsläufige Fiktionalisierung eigener Erlebnisse wird durch „Beweisfotos“ gestützt, die weder authentische Objekte abbilden müssen noch zwingend die Handschrift der Künstlerin tragen. Calles „Wahre Geschichten“ brechen so bewusst mit dem medial erlernten Wahrnehmungsautomatismus, nach dem Text und Foto zusammen den authentischen Kern einer Begebenheit rekonstruieren. In „histoires vraies“ wird sie durch diesen Trick endgültig zur Kunstfigur „Sophie Calle“.

Eine wahre Geschichte gibt es aber doch, und das ist die von Matthias Arndt, der die Französin 1996 als junger Galerist nach Berlin lockte mit einer guten Projektidee; ein Anreiz, der fast so viel zählt wie ein Mann, den sie liebt. Für das Projekt „Die Entfernung“ suchte Calle Orte auf, an denen vor der Wende DDR-Monumente standen, fotografierte die Leerstellen und befragte Anwohner nach ihren Erinnerungen. Die Antworten offenbarten die ganze Zwiespältigkeit der Gefühle, die den Umgang mit der DDR heute noch prägen, aber auch die entstehenden Erinnerungslücken – etwa wenn hartnäckig behauptet wird, das DDR-Emblem zeige Hammer und Sichel (statt Hammer und Zirkel). Calle schuf so einen der wichtigsten künstlerischen Kommentare zur deutsch-deutschen Nachwendegeschichte.

„Die Entfernung“ wurde für Berlin eigens in die existierende Ausstellung vom Centre Pompidou integriert. Aus Platzgründen verzichtete man hingegen auf einige schöne Frühwerke, beispielsweise „The Blinds“, für das Calle Blinde nach ihrer Vorstellung von Schönheit befragte. Im Gropius-Bau liegt das Gewicht auf neuen Arbeiten, die aber leider nicht alle die gewohnte Flughöhe erreichen. Immerhin kann der monumentale Liebeskummerexorzismus „Erlesener Schmerz“ als eine neue, gelungene Version des Calle-typischen Selbstexhibitionismus gefeiert werden. Auch wenn der Fan einige Klassiker in der Ausstellung vermisst, bietet sie am Ende doch die reizvolle Gelegenheit, mal wieder eine gute Freundin zu besuchen.

„M’as-tu vue?“, bis 13. 12. im Martin-Gropius-Bau, Mi.–Mo. 10–20 Uhr. Katalog (engl.), 69 €. „Wahre Geschichten“, bis 23. 10. bei Arndt & Partner, Zimmerstr. 90–91, Di.–Sa. 11–18 Uhr