Seelen vor neutralem Hintergrund

Mit der Ausstellung „Rineke Dijkstra. Paula Modersohn-Becker. Porträts“ deckt das Bremer Modersohn-Becker Museum eine frappierende Parallele auf

aus Bremen Esther Brandau

Kurz nach der Entbindung stehen die Frauen nackt vor einer weißen Wand und halten ihren noch nassen, faltigen Säugling im Arm. Thekla staunt ungläubig über das, was sie in den Armen hält. Zugleich ist ihr die Erschütterung durch die Naturgewalt anzusehen. Das Blut läuft ihr an den Beinen herunter. Saskias Blick wiederum ist unversehrt. Das Baby ist vor einer Woche zur Welt gekommen. Die schräge Narbe verrät den Kaiserschnitt. Schonungslos naturalistisch zeigen Rineke Dijkstras Bilder den Anfang vom Menschenleben und Muttersein. Die Niederländerin gilt als eine der bedeutendsten Kunstfotografinnen der Gegenwart.

Die Ausstellung „Rineke Dijkstra. Paula Modersohn-Becker. Portraits“ im Paula Modersohn-Becker-Museum in Bremen stellt die großformatigen Fotografien den um die Jahrhundertwende entstandenen Gemälden der „Hausmalerin“ gegenüber. Nackte Mütter, die vor 100 Jahren das Prädikat „geschmacklos“ erhielten. Ebenso wie auf Dijkstras Bildern ist der Körper des Säuglings bei der „Liegenden Mutter mit Kind“ der Mutter zugewandt. Beide Künstlerinnen bannen die Intimität zwischen Mutter und Kind vor einem kühlen, fast leeren Hintergrund.

Dijkstra ist überrascht. Es gebe „so many similarities“, so viele Ähnlichkeiten, zwischen ihren Arbeiten und denen der 1907 gestorbenen Wegbereiterin der Moderne. Sie geht von einem Kinderakt zu einer ihrer eigenen Fotografien, ein Mädchen, das am Strand vor der Kamera posiert. Sie kehrt wieder zurück zum Gemälde, ganz dicht; als suche sie nach Unterschieden. Kinder und Jugendliche nehmen in den Werken beider Künstlerinnen einen breiten Raum ein. Das Frappierende sei aber nicht die Ähnlichkeit der Themen, befindet Dijkstra, sondern die der Atmosphäre. „Ein gutes Bild hat eine Seele – das spürt man.“

Tatsächlich: Trotz des grundlegend pädagogischen Wandels in den vergangenen 100 Jahren, trotz antiautoritärer Erziehung und fortschreitender Globalisierung sind sich die Kinder und Heranwachsenden erstaunlich ähnlich. Nackt oder spärlich mit Badeanzug bekleidet, isoliert vor neutralen Hintergrund gestellt, offenbart sich in der Haltung der älteren Mädchen die hilflose Frage: Wohin bloß mit den viel zu langen Armen? Die Jüngeren begegnen den Augen der Künstlerinnen gleichgültiger. Sie sind mit ihrem Tutehorn beschäftigt oder einem Geschenk.

Dennoch ist auch der Wandel von Kindheit zu sehen. Im sumpfigen Bauerndorf gab’s vor 100 Jahren keine Disko und keinen H&M-Shop, sondern viel Arbeit und wenig zu essen. Und Dijkstra hat vor dem „buzzclub“ in Liverpool aufgebretzelte Girlies angesprochen, um sie vor einer weißen Wand zu fotografieren. Die Inszenierung überließ sie den Mädchen. Doch trotz Lidschatten und Glitzer-Shorts wirken sie bei genauerem Hinsehen ebenso haltlos wie viele der Mädchen aus Worpswede.

Die Persönlichkeit, das soziale Gefüge, das verrät bei Modersohn-Becker ebenso wie bei Dijkstra der Blick aufs Detail: Die abgekauten Fingernägel und das Posieren mit weiblichen Reizen, obwohl da nur Babyspeck ist, sprechen für sich. Und auf der anderen Seite: Die knospenden Brüste des gezeichneten Mädchens stehen in krassem Gegensatz zu ihren maskulinen Händen: Arbeiterhände! Für spielerische Selbstverwirklichung hatten die Jugendlichen vor 100 Jahren im Moordorf weder Zeit, Mittel noch Vorbilder. Wie groß die Welt für kleine Mädchen von Heute und Damals ist, zeigen wieder beide Künstlerinnen in motivischer Parallele: Auf einem riesig wirkenden Stuhl reichen ihre Füße längst nicht auf den Boden. Doch während Modersohn-Beckers psychologisch-künstlerischer Blick punktueller ist, geht Dijkstra systematischer vor: Die etwa 5-jährige Almerisa flüchtete mit ihrer Familie aus Bosnien. Noch kaum angekommen, wurde sie von der Fotografin im feinen Sonntagskleidchen porträtiert. Im Abstand von zwei Jahren verfolgt die Künstlerin seither, wie die Füße des Kindes allmählich den Boden ereichen. Als Pubertierende fläzt sie sich breitbeing mit provokantem Blick auf den Stuhl. Nächstes Jahr wird sie 16. Für dieses Foto ist ein Freiraum gelassen.

„Rineke Dijkstra. Paula Modersohn-Becker. Porträts“, Modersohn-Becker Museum, Bremen. Vernissage: Sonntag, 11.30 Uhr. Katalog 18 Euro