Unter Pilgern durch Nordspanien

Wandern auf dem Weg nach Santiago de Campostela ist wie Gefühlskino auf historischen Spuren vor einer großartigen Landschaftskulisse. Mit schicksalsergebener Zuversicht schnallen sich viele den schweren Rucksack auf und wandern drauflos

Passionierte Wanderer schätzen am Camino vor allem die kommunikative Seite

von CHRISTEL BURGHOFF

Es kommt der Moment, in dem meine innere Anstandsdame („Machen Sie das Beste aus Ihrem Typ!“) komplett durchdreht. „Wie kannst du bloß! Was tust du dir an! Sieh dich doch mal an: in einer Woche um 10 Jahre gealtert! Ist Schönheit etwa nur ein innerer Wert?“ Hhm. Ich muss sie abwimmeln: Für solche Tiraden der falsche Ort, die falsche Zeit.

Zu pilgern ist wirklich kein Spaziergang! Die Sonne steht senkrecht über der weiten, ausgedörrten Landschaft. Auf der berühmten Pilgerroute nach Santiago de Compostela ist es heiß. Und das noch in der zweiten Septemberhälfte. Das Dorf, das vor mir auftaucht, erinnert an mexikanische Dörfer in klassischen Western, wenn die Cowboys einreiten. Staubig und viel altes Gemäuer. Ansonsten ausgestorben. Irgendwo bellt ein Hund.

„Wenigstens einen Cafe con leche!“

Daraus wird nichts. Keine Bar in diesem Dorf. Hinter der Kirche steht ein Baum, darunter eine Bank. Hinlegen. Ausruhen. Etwas Schatten. Ein Schluck Wasser aus der Flasche. Wie genügsam der Mensch doch werden kann. Klack, klack. Die meisten Pilger gehen an Teleskopstöcken. Klack, klack. Ein Pärchen passiert das Dorf. Zwei Leute mit Rucksack aus dem großen Tross der Pilger, der sich jeden Tag zum nächsten Etappenziel aufmacht. Über einen Mangel an Mitwanderern kann ich mich nicht beklagen. Zur Zeit sind auf einer Tagesetappe mindestens 100 Leute unterwegs. Immer gen Westen. Viele gehen allein, für sich. Das ist Pilgerethos. Um sich dann verrückterweise abends, wenn man es wieder einmal geschafft hat, in einer Herberge zusammenzudrängeln. Auf engstem Raum, wo jeder jeden sieht und riecht und sich Ohropax in die Gehörgänge stopft, weil so viele Mitschläfer schnarchen und husten und um 5 Uhr früh schon wieder auf der Matte stehen.

Was erwartet mich heute Abend? Ein Massenquartier für alle in einem einzigen Schlafsaal? Oder ein enges, wackeliges Stockbett? Manche der alten Pilgerherbergen an Kirchen und Klöstern sind geschmackvoll restauriert, in anderen liegt man Kopf an Kopf in durchgelegenen Betten oder auf Matten – egal wie: es wird wieder eng.

Und die gute Stimmung bei der Ankunft wird wieder da sein. Kommunikation, freudiges Wiedersehen, entspanntes Abhängen, ein bisschen Jugendherbergsfeeling beim Duschen (bei mehr als 2 Toiletten und Duschen für 40 oder 50 Leute wähnt man sich fast in einem Hotel). Man gibt die Wunder des Tages und die eigene Lebensgeschichte preis – beim Wäschewaschen und natürlich bei der hingebungsvollen Fußpflege. Soll man die Blasen nur mit der Nähnadel aufstechen oder vielleicht einen Faden drinlassen? Welches Pflaster hilft denn nun? Das tägliche Ritual. Manchmal wird gemeinsam gekocht. Manchmal finden sich Gehgemeinschaften. Und Pärchen.

Wo Endorphine und Gruppendynamik glücklich ineinander fließen, kann eigentlich nichts falsch laufen. Backpacker wie überall auf der Welt. Wo man sich trifft, wird zusammengerückt, im guten Gefühl, auf einer alternativen, besonderen Route zu sein. Das ist gut fürs Ego, vor allem dann, wenn man auf Sinnsuche ist. Der Erlebniswert des Camino ist hoch. Es ist für viele der spirituelle Trip, seit ewigen Zeiten überliefert und seit 2 Jahrzehnten immer stärker im Trend. Manche bleiben auf diesem Weg hängen, wie Francis aus London, der seinen Lebensabend der Hilfe am Pilger widmet. Oder sie kommen über die Sommermonate zurück, um als Hospitaleros in den Albergues zu putzen und Pilger zu betreuen. „Dem Weg etwas von dem, was er mir gegeben hat, zurückgeben“, so beschreibt es ein Hospitalero aus Holland in der Albergue in Narjera.

Beeindruckend, wen der berühmte Camino alles auf die Beine und auf den Weg bringt. Manche der Jungen und sehr Sportlichen bewältigen mühelos 30 oder 40 Kilometer am Tag. Ein junger Engländer geht den Camino jetzt schon zum vierten Mal. Um des Gehens willen, sagt er. So halte er sein Leben in der Balance. Es gibt die vielen Radler, meistens Spanier. Leute in den Vierzigern, Fünfzigern und auch weit über sechzig wirken oft gut trainiert und entspannt – trotz ihrer großen Rucksäcke. Yoga soll fit machen, verraten ältere Frauen. Es gibt die greisen Pilger, die klaglos voranschreiten. Oder auch nur humpeln, die Füße verklebt vom vielen Blasenpflaster, mit geschwollenen Sehnen und Kniestützverbänden. Hinter Puente la Reina überholte ich am Berg recht füllige Damen, die ich eher bei Sahnetörtchen in Cafés vermutet hätte als hier auf diesen Weg. Sie stützten sich schwer auf ihre Teleskopstöcke, kurze Pause nach jedem zweiten Schritt. Wer es darauf anlegt, kann sich auf dem Camino leicht quälen. Von Frankreich aus führt der erste Schritt über die Grenze nach Spanien über einen Pass. Zwischen Saint Jean Pied de Port und Roncesvalles liegt ein Aufstieg von 1.250 Höhenmetern. Bis nach Pamplona braucht man als Pilger dann noch 2 oder 3 weitere Tage. Da stöhnen auch die Mutigen.

Doch ohne seine Pässe wäre der Camino nur halb so interessant. Der Bergkamm mit den gigantischen Windrädern, die man von Pamplona aus gut sieht, scheidet zwei gänzlich verschiedene Landschaften. Zurück in Richtung Pamplona und die Pyrenäen: eine große, grüne Senke. Doch nach vorn hinaus liegt die trockene, hügelige Landschaft Navarras. Am Horizont von hohen Bergen begrenzt, die zum Atlantik hin abfallen. Ein Farbenspiel in allen erdenklichen Braun- und Gelb- und Grautönen. Das Getreide ist längst geerntet, schwarz-grüne Tupfer begrenzen Felder, darüber der strahlend blaue Himmel. Zwischen Estella und Los Arcos passieren wir diese weite, hügelige Landschaft mit ihren herbstlichen Feldern, lange Zeit ohne ein Dorf. Diese Etappe mögen viele nicht – zu abgeschieden. Wege durch die Weinfelder sind beliebter. Am Kloster Irache hat die örtliche Weinkellerei eine „Weinquelle“ für Pilger angelegt. Keine schlechte Geste. Das Weinanbaugebiet Rioja ist berühmt, Logrono ist die Hauptstadt dieser Region. Auf dem Weg nach Burgos wandert man nach Kastilien hinüber. Die Dörfer auf dem Weg können sich mit sehr alten Kirchen schmücken, die Städte mit romanisch-gotisch-barocken Kathedralen, 1.000 Jahre sind praktisch kein Alter für diese Bauten. In Burgos schließlich ist ein gutes Drittel des Camino bewältigt.

In der Kirche von Los Arcos mit ihrem beeindruckenden Stilmix aus Gotik und spanischem Barock erwartet uns abends wieder ein Gottesdienst – Pilger werden gesegnet. Ein altes deutsches Ehepaar blieb in der Herberge zurück und lässt sich von zwei lustigen, tätowierten Thüringern aufmuntern. Erst musste das Paar den Diebstahl der Ausweise und der Reisekasse in der Herberge von Pamplona verkraften, jetzt macht ein Knie der Frau Probleme. Viele Pilger tragen neben ihrem Gepäck auch unsichtbare Lasten. Für John, einen alten Iren, war der Tod des Bruders der Auslöser für die Wanderung. Eine Österreicherin dagegen feiert auf dem Camino befreit ihren 60. Geburtstag – nach überstandenem Bauchspeicheldrüsenkrebs. Rosa, Ende zwanzig, beruflich selbstständig und erfolgreich, steckt in einer Lebenskrise. „Es muss doch noch etwas anderes geben neben diesem Leben.“ Erst stieg sie in die Astrologie ein, dann hörte sie von diesem Pilgerweg. Zwei liebenswerte Studentinnen sind von Wundern begeistert. Eine Hamburgerin, die den Camino zum zweiten Mal geht, entdeckt jetzt kleine, kaum besuchte Herbergen und genießt intime Pilgermenüs und Gottesdienst bei Kerzenschein. Wandern hier ist wie Gefühlskino auf historischen Spuren vor großartiger Landschaftskulisse.

Und dann plötzlich diese Leere! Katergefühl wie nach zu vielen durchgemachten Nächten. In Logrono bin ich ausgeschert und habe mir ein Hotelzimmer genommen. Die Kombination aus Rucksack, harten Pisten und schlechten Betten geht auf den Rücken. Tür zu! Erholsamer Schlaf am hellen Mittag. Ich merke, wie unsagbar müde ich bin.

Gegen Abend tauchen dann wieder bekannte Gesichter auf der Plaza del Mercado auf. In Logrono verlassen viele den Weg, die wenigstens nach Burgos wollten. John, der alte Ire, humpelt über den Platz. Ihn sehe ich hier zum letzten Mal. Auch meine Bettnachbarn aus Estella verabschieden sich. Beide sind sehr jung, doch Bernards Knie will nicht mehr.

Auch das ist der Camino: ein klassischer Fernwanderweg, der gern für einzelne Etappen genutzt wird. Er ist der spanische Teil des Europaweges E 3, der Atlantik und Schwarzes Meer verbindet. Er führt auch mitten durch Deutschland. Wer gern wandert, liebäugelt irgendwann auch mit dem Camino. Zumal es hier preiswert ist. Ein Pilgerausweis bietet Zugang zu den Albergues, die Unterkunft kostet zwischen 3 und 6,50 Euro. Alle paar Kilometer gibt es Übernachtungsmöglichkeiten. Abends bieten viele Restaurants spezielle Pilgermenüs an. Und zu Pilgern sind Spanier besonders freundlich. „Wenn man sonst wandert, trifft man oft tagelang keinen Menschen“, sagt Robert aus Rotterdam. Der Ingenieur, jetzt Rentner, schaut entspannt den Störchen zu, die über uns kreisen. Er ist frisch eingetroffen, steigt an einem Punkt des Weges wieder ein, den er im letzten Jahr verließ. Der passionierte Wanderer schätzt am Camino vor allem die kommunikative Seite. Hier ist er nirgends allein.

In Logrono schert auch Vikky aus, die eigentlich bis nach Santiago gehen wollte. Sie zeigt auf ihre neuen Sandalen und kündigt an, den Zug zu nehmen. Zu viele Blasen an den Füßen. „Ich werde in Santiago für meine Freunde beten“, sagt sie, „dafür muss ich nicht den ganzen Weg gehen.“ Gemeinsam mit Natasha gehen wir zum Abschied essen. Natasha ist Fotografin und trägt neben dem Rucksack noch ihr Equipment über den Camino. Die beiden US-Amerikanerinnen offenbaren ihre Erweckungserlebnisse: bei Vikky lag es am Papst, bei Natasha am Dalai Lama. Sie bezeichnet sich als Buddhistin. „Warum nicht“, meint sie, „dieser Weg ist auch für Buddhisten.“

Vielmehr für Esoteriker fast aller Richtungen. Der Camino bietet jedem etwas. Relikte aus allen kulturhistorischen Epochen der europäischen Menschheitsgeschichte säumen die Route. Nicht nur aus christlichen, sondern auch aus maurischen und römischen Zeiten. Über die religiösen Bräuche der Kelten, die sich in vorchristlichen Zeiten ansiedelten, weiß man wenig. Und eigentlich gar nichts mehr über ihre Vorgänger aus megalithischen Zeiten. Menhire und Dolmengruppen – das sind die ältesten Zeugnisse. Santiago an der alten Römerstraße und vor allem Finisterre am Atlantik, das Ende der damals bekannten Welt, sollen uralte Heiligtümer sein. Mit starken Schwingungen und viel Energie, Kraftorte der Menschheit, heißt es, die schon seit 30.000 Jahren bestehen könnten. Der Camino bietet viel Raum für viel Fantasie.

Beim Stichwort „Innenschau“ kräuselt Andreas die Stirn. „Was mir alles gesagt wurde, was ich tun soll! Innenschau! Reiki. Eigenurintherapie.“ Seine Liste der alternativen Heilmethoden ist lang, als wäre die Angina, die ihn unterwegs ans Bett fesselte, eine finale Katastrophe. Ziemlich viel Aufwand für ein bisschen Fieber, oder? Ein leicht ironischer Seufzer ist die Antwort. Und eine einleuchtende These: „Eine Angina fällt durchs Raster“, sagt Andreas, „hier sind nur Blasen und Knieprobleme normal.“ Im Bus erreichen wir Burgos. In der Altstadt dominiert die grandiose Kathedrale. Ihre Außenfassage ist gereinigt, der helle Stein blendet geradezu in der Sonne. Burgos ist auch eine psychologische Station. Im Pilgerjargon beginnt danach die „Wüste“, nämlich die flache Hochebene zwischen Burgos und Leon. Der Ort des Nicht- mehr und des Noch-nicht, sagt man. In der Herberge herrscht gedämpfte Stimmung. Gut möglich, dass es auf der kommenden Wegstrecke etwas einsamer wird. In Burgos steigen auch überzeugte Pilger in den Zug oder den Bus und lassen sich ins liebliche Galizien fahren. Ihre Knie und Füße werden es ihnen danken.