Eine Stadt, die den Autos gehört

Madrid erstickt im Verkehr. Auf 5 Mio. Einwohner kommen 3,5 Mio. Pkws, doppelt so viele wie vor zehn Jahren. Jetzt sollen neue Straßen Abhilfe schaffen – gebührenpflichtig

MADRID taz ■ „Madrid – die Mausefalle“, titelte vor wenigen Tagen eine spanische Zeitung. Die Rede war nicht etwa vom sündigen Nachtleben der Hauptstadt, sondern vom Verkehrschaos, das an jenem Tag sämtliche Rekorde schlug: 180 Kilometer Stau auf den beiden Madrider Autobahnringen und deren Zufahrten sowie 460 Unfälle. Der erste Herbstregen ließ viele von denen ins Auto steigen, die sonst öffentliche Verkehrsmittel benutzen.

Nirgends in der EU wächst der private Fuhrpark so schnell wie in Spanien. Die Hauptstadt ist Spitzenreiter, in der Region Madrid fahren heute doppelt so viele Pkws wie vor zehn Jahren. Die 5 Millionen Einwohner Madrids besitzen knapp 3,8 Millionen Pkws. Die vermeintliche Zauberformel für den Umgang mit dieser Blechlawine heißt „Radiales“. Die erste dieser insgesamt fünf mautpflichtigen Zufahrtsstraßen – parallel zu den sternförmig auf Madrid zulaufenden Nationalstraßen – wurde diese Woche eingeweiht. Wer je nach Strecke bis zu 150 Euro im Monat hinblättert, darf sie nutzen. 13 Minuten spart er auf 40 Kilometern zur Stadtautobahn. Dort steht er wieder im Stau.

„Diese Verkehrspolitik hat eine perverse Dynamik zur Folge. Je mehr Straßen, desto mehr Menschen fahren Auto“, kritisiert der Sprecher der Umweltschutzorganisation Ecologistas en Acción, Paco Segura. Madrids Umland ist bereits jetzt eine der europäischen Regionen mit der größten Dichte an Autobahnen und Schnellstraßen mit mehr als zwei Spuren in jeder Richtung. Hunderte von Kilometern sollen in den nächsten Jahren folgen: Neben den Radialstrecken ist ein weiterer, dritter Autobahnring in Bau. Der vierte wird bereits am Reißbrett entworfen.

„Europa ist an einem Punkt, wo jeder weitere Zuwachs an Verkehr kontraproduktiv ist. Die negativen Auswirkungen sind größer als die Vorteile wie Wachstum, Effizienz und Komfort“, heißt es in einer Studie, die im Auftrag der EU-Kommission erstellt wurde. „In Madrid können wir genau dies beobachten.“ Nicht nur auf den Zufahrtsstrecken, auch in der Stadt wurden in den letzten Jahren Milliardenbeträge ausgegeben, um den Verkehr flüssiger zu machen. An sämtlichen großen Kreuzungen wurden Tunnel gebaut. „Ampelfrei vom Madrider Zentrum bis an den Stadtrand von Barcelona“, preist die Stadtverwaltung eine dieser Schnellstrecken durch Spaniens Hauptstadt. Wie so oft wurden auch hier die Verkehrsplaner von der Entwicklung eingeholt. Vermeintliche Erleichterungen ziehen mehr Autos an. So staut sich mittlerweile auch in den Tunnels der Verkehr.

Der Verkehr in der Innenstadt kollabiert Tag für Tag. Ob Busspuren, Taxihaltestellen oder Gehsteige – alles ist zugeparkt. Wer keinen Platz findet, der stellt sein Auto in zweiter oder gar dritter Reihe ab. Der genervte Griff zur Hupe bei den Eingeschlossenen ist die Folge. Lärm und Luftverschmutzung sind so groß wie sonst in keiner Großstadt Europas. Messungen zeigen, dass zwei Drittel der Bewohner Madrids einem Lärmpegel ausgesetzt sind, der gesundheitsschädlich ist. 30 Prozent des spanischen CO2-Ausstoßes verursacht der Individualverkehr. Tendenz steigend. Jahr für Jahr verstößt das Land gegen die Auflagen aus dem Klimaschutzabkommen von Kioto.

„Wir brauchen abgegrenzte Busspuren, Fahrradwege, mehr Fußgängerbereiche“, fordert Segura. All diese Pläne gibt oder gab es auch in der Stadtverwaltung. Doch die Randsteine, die den Bus vor dem Pkw-Verkehr schützten, wurden in den letzten Jahren wieder herausgerissen, Fußgängerzonen wurden aufgehoben. Und ein Plan für Radwege, den ein deutscher Verkehrswissenschaftler vor zwei Jahren im Auftrag der Stadt Madrid erstellte, verschwand in der Schublade. REINER WANDLER