Intensive Blicke

Christian Boltanski, der 1996 den Bremer Rolandpreis bekam, hat eine Fotoserie für Plakatwände und eine Beilage der taz nord gestaltet

Das ist echt ganz fiese Kunst. Die guckt einen an. Mit riesigen Augen von riesigen Schwarzweiß-Plakaten. Und vergangenen Samstag auch vom Faltposter der taz nord-Beilage. In einer Bildsprache von schlichter Intensität, die verunsichert. Augenpaare, in hoher Auflösung aus einem Antlitz geschnitten: extrem pixelig – als eine Art digitaler Pointilismus.

Augen von irgendwelchen Filmstars oder historischen Fotos? Augen jedenfalls, so abgrundtief traurig, als hätten sie zu viel Leid, Elend und Gewalt gesehen. So assoziiert man hinein in diese leeren Blicke eines erstarrten Entsetzens. Und fühlt sich ertappt. Schaut schnell wieder weg. Aus Angst, längst Verdrängtes könnte aus einem herausgeguckt werden. Aus Scham, jemanden zu intensiv beäugt zu haben. Nicht einmal, ob die Augen einem Mann oder einer Frau gehören, ist genau zu erkennen.

Fünf dieser Motive wandern seit Mitte August im zehntägigen Rhythmus von einer Bremer Plakatwand zur nächsten. Im DIN A2-Format liegen derzeit sie zum Abgreifen an diversen Orten parat, damit das öffentliche Kunstwerk privatisierbar wird, man also seine Wohnstube damit wird tapezieren können.

Ausdenker dieser Kunstaktion ist der 60-jährige Christian Boltanski, Dauerabonnent für Einladungen zu den Weltkunstspektakeln zwischen Kassel und Venedig. Er kam damit dem Wunsch nach, sich mit einem eigenen Werk dafür zu bedanken, dass er 1996 zum Rolandpreis-Träger der Senatsstiftung „Bremer Bildhauerpreis für neue künstlerische Denkansätze im öffentlichen Raum“ gekürt wurde.

Der Hansestadt übertrug Boltanski jetzt die zeitlich unbeschränkten Nutzungsrechte für die Augenfotoserie „Les Regards. Skulptur für Bremen“. Die komplett 13-teilige Originalserie wird heute dem Neuen Museum Weserburg in Bremen als Dauerleihgabe übergeben.

„Die Zeit anhalten und einen Moment des Lebens bewahren“: So hat Christian Boltanski einmal das Ziel seiner Arbeit beschrieben. Der öffentliche Ort wird zum Ausstellungsraum für Fragmente individueller Erinnerung – oder auch für optische Irritationen, die das soziale Gedächtnis aktivieren sollen. Kunst gegen das Vergessen. Der Künstler wird zum Spurensucher.

Als beispielhaft gilt Boltanskis Kunst-Projekt an Berliner Hauswänden. Er zierte sie mit den Namen, Herkunftsländern und Lebensdaten der Vorkriegs-Bewohner. Sie hießen zum Beispiel Rosenzweig oder Frydmann.

Den Holocaust aus dem kollektiven Unbewussten wieder hervorzuziehen, Menschen aus der unverschuldeten Namenlosigkeit zu reißen: Das versucht Boltanski angeblich auch mit „Les Regards“. Eines der Augenpaare soll nämlich das von Anne Frank sein. Welches es ist, wo es hängt, ob es der taz nord beilag – all das wird aber nicht verraten. fis

„Les regards“ im Internet: www.boltanski-bremen.de