Dem Gewissen entfleuchen

Philosophin rotiert im Kunststoff-Käfig: Dea Lohers neues Stück „Unschuld“, jetzt uraufgeführt am Thalia Theater, stellt existenzielle Fragen

Gott? Das sind ein paar Geldscheine in einer ollen Plastiktüte am Wegesrand

von KATRIN JÄGER

Eine Frau (Pia Hansen) geht ins Meer, um sich von ihm verschlucken zulassen. Elisio (Christoph Bantzer) und sein junger Freund Fadoul (Hans Löw) sehen zu. Elisio will sie retten, Fadoul hat Angst, entdeckt zu werden. Im Krankenhaus, wo sie die Frau abliefern würden. Denn die beiden sind illegal in Deutschland, wohnen im „Selbstmörderhochhaus“, einem leer stehenden, asbestverseuchten Wolkenkratzer. Die Frau ertrinkt, vier Männer springen in den Tod.

Weiter Schicksale in Dea Lohers Unschuld, das jetzt am Thalia uraufgeführt wurde: Frau Zucker (Victoria Trauttmansdorff), die langsam von der Diabetes aufgefressen wird. Und die Strip-Bar-Tänzerin Absolut (Claudia Renner) ist blind, weil ihre Eltern es so wollten. Frau Habersatt (Verena Reichardt) ist das Kind im Bauch abgestorben. Deshalb entschuldigt sie sich seit Jahren. Bei Familien, deren Angehörige gewaltsam ums Leben gekommen sind. Ihr Sohn sei schuld, „Udo, ach nee, Achim“, egal. Hauptsache schuldig, denn Frau Habersatt fühlt sich „seit langer Zeit als leeres Grab auf zwei Beinen. Ich musste meinen Sohn tot zur Welt bringen, mein Körper war sein Sarg.“

Alle Figuren in diesem Stück wollen ihrem Gwissen entgehen. Elisio „wäre so gerne Rettungsschwimmer“ geworden. Franz (Clemens Dönicke) wäscht Tote, weil er seine Frau Rosa (Doreen Nixdorf) nicht schwängern kann. Die Philosophie gibt keine Antworten mehr, geschweige denn Erlösung. So dreht die alternde Philosophin Ella (Angelika Thomas) durch in ihrem durchsichtigen Kunststoffkäfig, wie ein exotisches Tier im Zoo, beäugt von Elisio, Fadoul und all den anderen. „Das so genannte Sinnstiftende, das überlasse ich den Politikern, den Naturwissenschaftlern“, brüllt sie. „Und schaue mit an, was dabei herauskommt: rheumatische Klonschafe. Einstürzende Hochhäuser. Genozide im Innern Afrikas.“ Es hilft nichts, man muss fröhlich sein, so Fadouls Motto. Dann findet er Gott. In Form von Geld, in einer ollen Plastiktüte.

Das Märchendrama menschlicher Verstrickung, traurig, lustig, ironisch – dicht geschrieben von Dea Loher, punktgenau inszeniert von Regisseur Andreas Kriegenburg, brilliant gespielt vom Thalia Ensemble. Bestechend das schlichte Bühnenbild von Julia Krenz: Lange weiße Vorhänge teilen den Raum in immer neue kleine Einheiten. Die Schauspieler ziehen sie rasch entlang der Schienen an der Decke und bauen ihren Figuren so in Sekundenschnelle eine Wohnung.

Videoaufnahmen zu den Szenen am Meer sind an einem Drehtag am Nordseestrand von St. Peter Ording entstanden. Während der Aufführung laufen sie als Projektion auf den multifunktionalen weißen Vorhängen. Da balgen sich Elisio und Fadoul auf dem Leinwand-Strand, während sie gleichzeitig auf der Bühne das Pro und Contra der Rettungsaktion diskutieren. Die Videoprojektion schafft Traumatmosphäre, da stumm und seelenverwandt mit den Bildern aus Luchino Viscontis Verfilmung von Thomas Manns Tod in Venedig. An anderer Stelle setzt Andreas Kriegenburg Video als Doku-Fiction ein. Überlebende eines Amoklaufes erzählen darin von ihrem ungeheuren Schock. Mit ironischer Leidensmine nimmt das Thalia Ensemble so das Genre „Reality-TV“ auf die Schippe. Dea Lohers Unschuld, ein sinnliches, hochintelligtentes Gesellschaftskaleidoskop, wagt Fragen nach der Metaphysik im Alltag – aus überraschender Perspektive.

nächste Vorstellungen: 23., 24.10., 20 Uhr, Thalia Theater