Unprätentiös die sprachliche Textur souverän herausgemeißelt

Literarische Sensation auf der Frankfurter Buchmesse: Michel Friedmans Erstlingswerk „Fürsorgliche Belaberung“ – beinahe unverletzliche Achillesferse der Moderne

Sein komplex strukturiertes Werk ist von einer zutiefst irritierenden Doppelbödigkeit durchweht

Auf den ersten Blick mag es verwunderlich erscheinen, dass der Erstling des literarischen Newcomers Michel Friedman ausgerechnet in einer der avantgardistischen Lyrik verpflichteten Schriftenreihe erscheint: als Band 14 der „Achilles-Verse der Moderne“. Noch erstaunlicher aber ist, wie der bislang als Autor noch nicht hervorgetretene Extalker mit „Fürsorgliche Belaberung“ – so der Titel seines Werks – quasi über Nacht zum Shootingstar der Saison avancierte. Wo ist nun aber dieser Michel Friedman literarisch zu verorten? – werden die meisten Leser mit Recht fragen.

Gerade dazu schweigen die einschlägigen Nachschlagewerke – wie bei vielen der in dieser Reihe erschienenen Autoren. Aber wer sich die Mühe macht, in den Blättern der deutschen Gesellschaft für Mädchenhandel nachzuschauen, der wird seinen Namen über sehr langen, assoziativ gefügten, rhythmisch gegliederten Sitzungsprotokollen finden, die damals schon als sehr eigenständige Gebilde auf- und buchstäblich zwischen alle damals herrschenden Stilstühle fielen.

In seinem staunenswerten, bewunderungswürdigen, freilich manchmal nur fabulierseligen Buch präsentiert sich Michel Friedman nun einer breiteren literarischen Öffentlichkeit als Homo Laber, dessen sehr komplex strukturiertes Werk von einer zutiefst irritierenden Doppelbödigkeit durchweht ist. Worum geht es?

Im Mittelpunkt des Romans steht die Familie des nach dem Krieg vom einfachen Schnürsenkelverkäufer zum millionenschweren Immobilientycoon aufgestiegenen Hugo Dolm, der seinen beruflichen Erfolg mit familiärer Zerrüttung bezahlen muss. Um seinen zahlreichen Neidern keine Angriffsfläche zu bieten, trägt er seine mehrstündigen Marktanalysen als Generalprobe erst im kleinen Familienkreise vor.

Die Familienmitglieder reagieren recht unterschiedlich auf das allmonatlich stattfindende Ritual: Erika, seine Frau, schläft nach den ersten fünf Minuten regelmäßig ein, Salmone, die 13-jährige bekennende Veganerin und Hobbypoetin, hängt fasziniert an den Lippen des labernden Übervaters, während Tobias Dolm mit rasiermesserscharfen Zwischenrufen seinen Vater nicht selten aus dem Konzept und sich in den „Karzer“, die zur Familienzelle umfunktionierte Sauna bringt, in die die Rede des Vaters allerdings live übertragen wird. Während sich Hugo Dolm zunehmend von seiner Familie entfremdet, flüchtet er sich in einen Teufelskreis aus Halbwelt, Drogen und blutjungen Ukrainerinnen.

Dem spürbar autobiografisch gefärbten Text – Friedman selbst war jahrelang stellvertretender Vorsitzender der Sektion Schnupfzwang im Schutzverband deutscher Medienschaffender und lebt mittlerweile in Scheidung – fehlt zwar auf den ersten Blick die offensichtliche epische Muskulatur, doch die bestürzende Authentizität seines Romanerstlings bügelt die sicherlich vorhandenen Erzähldefizite des gelernten Querdenkers mühelos aus.

Es sind dies die Notate eines Zerrissenen, die, mit großer Bedingungslosigkeit vorgetragen, eine dichterische Unbestechlichkeit demonstrieren, wie wir sie in der deutschen Nachkriegsliteratur seit Borcherts „Draußen vor der Tür“ nicht mehr gehört haben. Friedman schreibt in seinem epischen Erstling mit bewunderungswürdig leichter, entkrampfter Hand. Seine Sprache ist dabei nicht billig flott, sondern gut geölt und reich instrumentiert. An keiner Stelle wohlfeil prunkend, dafür oft unprätentiös im Sinne Dieter Bohlens die sprachliche Textur souverän herausmeißelnd.

Alles in allem ist das Buch ein erschütternder Zustandsbericht über die Seelenlage unserer Nation, dessen Meisterschaft auch den Kenner oft genug staunen macht. Sperrig in der Konstruktion und doch süffig erzählt, von großer sprachlicher Bündigkeit und zugleich von unbändiger, manches Mal auch ungebändigter Laberlust erfüllt, ist Michel Friedman ein literarischer Weitwurf gelungen, der sich in einem unwiderstehlich rhythmischen, unverschwitzten, geradezu parfümierten und brillierten Parlando präsentiert.

         RÜDIGER KIND