Immer mehr Schleier

Während die Türkei sich fit für die EU macht, sehen viele Frauen einen Abbau ihrer Rechte

AUS ISTANBULDANIELA WEINGÄRTNER

Am Beginn dieser Woche herrschte Festtagsstimmung in den Grundschulen von Istanbul. Jungen und Mädchen zogen ihre neuen Schuluniformen an und machten sich mit ihren stolzen Eltern auf den Weg, um den ersten Schultag zu feiern. Für 14 Millionen Kinder in der Türkei waren die Ferien zu Ende. Doch die Zahl der schulpflichtigen Mädchen, die auch dieses Jahr wieder zu Hause blieben, wird auf 600.000 geschätzt.

Zur gleichen Zeit trafen sich auf einem Hügel über der Stadt Gleichstellungsexperten und Sozialwissenschaftler aus der EU und der Türkei. Die Bosporus-Universität liegt in einem der wohlhabenden europäischen Randbezirke Istanbuls, mit weitem Blick über die gleichnamige Meerenge, die Europa von Asien trennt. Vor dieser symbolträchtigen Kulisse sollte der Gedankenaustausch stattfinden. Mehr wechselseitiges Verständnis hatte die Einladung in Aussicht gestellt. Gäste und Gastgeber sollten berichten über die Situation von Frauen und Mädchen in ihren jeweiligen Heimatländern.

In den ländlichen Gebieten der Türkei kann jede dritte Frau nicht lesen. Jede zweite Ehe im Südosten wird ohne Einwilligung des Mädchens arrangiert. Jede zehnte Braut dort wird in eine Vielehe hinein verheiratet. Die Erwerbsquote bei Frauen ist von 1955 bis 1999 von 72 Prozent auf 28 Prozent gesunken. Das alles steht in einer neuen Studie der Universität Istanbul.

Auf den ersten Blick hätte es eine Konferenz in irgendeiner mitteleuropäischen Universität sein können: Frauen und Männer im City-Dress, Dankesreden an den Sponsor, den Geschäftsmann Bülent Eczacibasi. Anerkennung für die veranstaltende Organisation Kader, die Vereinigung für die Unterstützung weiblicher Berufsanwärter. Auf den zweiten Blick ist für die Gäste aus Europa vieles aber doch verwirrend anders: Die verschleierten jungen Frauen, die das Geschehen im Saal von einer Tribüne aus verfolgen. Eigentlich ist seit Attatürks Reformen das Kopftuch vom Unigelände verbannt. Doch die Rektorin der Bosporus-Universität sei eine tolerante Person, erklärt die Frauenforscherin Selma Acuner lachend – und überhaupt werde das Kopftuchverbot an den meisten Unis nicht mehr so streng eingehalten.

Fürchtet sie, dass sich unter der neuen islamischen Regierung die Situation für die Frauen verschlechtert? „Ich bin eine unverbesserliche Optimistin“, sagt die Wissenschaftlerin aus Ankara, die mit der Sonnenbrille im blonden Haar, braungebrannt und mit Modeschmuck behängt, sehr amerikanisch wirkt. Die aufgeregte Debatte um das Projekt der Regierung Erdogan, Ehebruch unter Strafe zu stellen, werde vor allem im Westen geführt. Die türkische Frauenbewegung habe andere Prioritäten auf der Tagesordnung. „Die Strafrechtsreform enthält so viele positive Neuerungen. Natürlich bleiben aus unserer Sicht einige Schwachstellen. Es wird zum Beispiel ein Hintertürchen geschaffen, das es Richtern ermöglicht, die Strafe bei so genannten Ehrverbrechen zu mindern. Der Pornografie-Paragraf bringt Biologielehrer in eine schwierige Lage. Und zu Jungfrauentests gibt es eine weiche Formulierung. Wir wollen im Gesetz lesen, dass sie klipp und klar verboten sind.“

Darüber, was von strenggläubigen muslimischen Geschlechtsgenossinnen zu halten ist, scheiden sich die Geister in der westlich orientierten türkischen Frauenbewegung. Hülya Gülbahar, die streitbare Juristin, die eine Protestbewegung gegen Frauendiskriminierung im Strafrecht und Zivilrecht anführt, macht nicht viele Worte: „Gehirnwäsche“.

Die dunkelhäutige Frau mit dem straff zurückgekämmten schwarzen Haar kann sich nicht vorstellen, dass eine junge Frau sich freiwillig ein Tuch um den Kopf wickelt und bodenlange Gewänder trägt. Sie verfolgt auch die Ehebruchdebatte mit großer Sorge. „Das Gesetz soll für Männer und für Frauen gleichermaßen gelten. Theoretisch. In Umfragen sagen aber in den östlichen Provinzen zwei Drittel der Frauen, sie würden den Prozess ohnehin nicht mehr erleben, weil ihr Mann sie in einem solchen Fall sofort umbringen würde. Und der Prozentsatz, der nicht wagen würde, den eigenen Ehemann vor Gericht zu bringen, ist genauso hoch.“

Im Saal reiht sich Vortrag an Vortrag. Auf den Rechauds draußen im Garten verköchelt das von Unternehmer Eczacibasi gestiftete Hühnchenragout. Doch bevor die Zuhörer in die Pause entlassen werden, kündigt die Moderatorin einen letzten Diskussionsbeitrag an. Als die alte Dame im apfelgrünen Hosenanzug energisch zum Mikrofon stürmt, geht ein Raunen durch den Saal: Nermin Abadan-Unat will sprechen, die Grande Dame der türkischen Frauenforschung. „Mir fehlt in all diesen schönen Reden ein wichtiger Hinweis“, donnert sie. „Der Hinweis auf den Mann, dem wir die Freiheit verdanken, hier so offen über unsere Lage sprechen zu können: Mustafa Kemal Attatürk!“

Der „Diskussionsbeitrag“ entpuppt sich als fulminantes pro-westliches Plädoyer einer Wissenschaftlerin die, 1921 in Wien geboren, sich als Kind der türkischen Republik begreift und heute um den Verlust ihrer republikanischen Rechte fürchtet. Als sie endet, brandet Jubel auf. Den Frauen im Saal, von denen die meisten nicht halb so alt sind, hat Abadan-Unat aus der Seele gesprochen. Ein junges Mädchen mit Kopftuch und bodenlangem Gewand allerdings stellt sich ihr in den Weg und fragt lächelnd, aber beharrlich: „Warum beleidigen Sie meine Lebensweise?“

„Warum folgen die jungen Mädchen dieser wahabitischen Mode, bedecken mit einer Kappe ihre Haare, tun ein Kopftuch noch drüber, das hat doch hier gar keine Tradition!“, fragt die Frauenforscherin zurück und gibt in ihrem weichen fehlerfreien Deutsch, das wie aus dem Kaiserin-Sissi-Film klingt, selbst die Antwort. „Das ist jetzt die Mode, mit der man leicht einen guten Ehegatten bekommt.“ Einige seien religiös überzeugt, aber längst nicht alle. „Wenn die Frau des Ministerpräsidenten verschleiert geht, die Frau des Außenministers, dann ändern sich natürlich die Rollenvorbilder.“

Abadan-Unat macht keinen Hehl daraus, dass sie der neuen Regierung nicht über den Weg traut. Der Staat spiele eine elementare Rolle, wenn es darum gehe, die Rechte des Individuums zu schützen. Doch im Wertesystem der islamisch geprägten Politiker sei das Recht des Individuums auf Selbstbestimmung dem Recht auf Gewissensfreiheit nachgeordnet. Die Frauenrechtsbewegung „Lila Stiftung“ habe erreicht, dass jede Stadt ein Frauenhaus schaffen müsse. Unter Erdogan würden sie nun wieder geschlossen, denn nach seinem Weltbild sei die Frau Teil der Familie – und Familienangelegenheiten gingen den Staat nichts an.

Abadan-Unat hat unzählige soziologische Untersuchungen veröffentlicht. Die Wertvorstellungen türkischer Migranten waren eines ihrer Spezialgebiete. „Ein Teil der erzkonservativen Gruppen sind in Europa groß geworden. Sie haben dort profitiert von der Religionsfreiheit. Diese Werte werden nun in die Heimat zurücktransportiert.“ Diese Einschätzung teilt ihre Kollegin Selma Acuner. Hinzu käme die Migration innerhalb der Türkei. Da die Wege nach Europa versperrt seien, zöge es immer mehr Familien aus den ärmsten Regionen in den Westen. Deshalb seien in Istanbul viel mehr verschleierte Frauen zu sehen als in ihrer Heimatstadt Ankara.

„Die Türken wollten schon immer nach Westen“, sagt Abadan-Unat. „Natürlich verfolgen die Konservativen ihre eigenen Ziele, wenn sie auf die westliche Religionsfreiheit hoffen. Aber bitte, lasst uns in die Union hinein. Es ist unsere einzige Chance.“