Theater im Widerstand

Die Kürzungspläne des niedersächsischen Kulturminister Lutz Stratmann gefährden das „Hildesheimer Modell“

„Gehen die Pläne durch, ist das Hildesheimer Modell tot“

„Ich stehe durch die Ereignisse hochgradig unter Stress“, entschuldigt Urs Bircher seine Unruhe. Immer wieder springt der Intendant des Stadttheaters Hildesheim nervös vom Stuhl hoch, wandert mit verschränkten Armen durchs Büro. Denn der Kahlschlag in der freien niedersächsischen Kulturszene rückt näher: Kulturminister Lutz Stratmann will Zuschüsse in Höhe von acht Millionen Euro kürzen – fast alle Gelder, die nicht durch feste Verträge gebunden sind. Die freie Szene schreit auf, aber auch im scheinbar abgesicherten Stadttheater herrscht Alarmstufe rot. Weil Stratmann, wie Bircher fürchtet, die nächsten Kürzungspläne schon parat hat.

Kommenden Montag will der Minister seine Pläne in der Kabinettsklausur vorstellen. Die Landesarbeitsgemeinschaft für Soziokultur fürchtet einen „kulturellen Kahlschlag“: Rund 1.200 Einrichtungen im Land wären betroffen. Hildesheim träfe eine solche Maßnahme besonders hart, da es hier eine gut funktionierende, üppig blühende freie Theaterszene gibt, die gemeinsam mit dem Stadttheater und dem Theaterinstitut der Hildesheimer Universität das „Hildesheimer Modell“ entwickelt hat.

Dieses Projekt wird mittlerweile bundesweit als modellhaft gepriesen, weil die Trennung von institutionellem und experimentellem freiem Theater aufgehoben ist. Der Uni-Nachwuchs bekommt im Stadttheater Regie- und Dramaturgie-Verträge, die freien Gruppen nutzen Bühnen und Ausstattung des großen Hauses, das Stadttheater wiederum beschäftigt freie Darsteller mit Gastverträgen. Alle Seiten profitieren von der Lösung, nicht zuletzt finanziell: „Nur so werden Projekte möglich, die einer allein nie machen könnte“, sagt Bircher über Großvorhaben wie die Nibelungen als Westernstück, eine Kooperation mit dem „Theater Aspik“. Ebenso wichtig ist Bircher der künstlerische Gewinn, weil sich die Erfahrung des Stadttheaters und die experimentellen Ansätzen der Freien ergänzen. Er kann das mit Zahlen belegen: Die Besucherzahlen des Stadttheaters sind in den vergangenen drei Jahren um 20 Prozent gestiegen.

Nun jedoch steht alles auf der Kippe. „Wenn Stratmanns Pläne durchgehen, ist das Hildesheimer Modell tot“. Davon ist „Aspik“-Chef Uli Jäckle überzeugt. „Wenn man der Polizei das Weihnachtsgeld kürzt, kann sie trotzdem weiterarbeiten. Aber die freie Kulturszene würde komplett plattgemacht.“ Minister Stratmann indes sucht zu beruhigen: „Trotz der erforderlichen Einsparungen wird die Hildesheimer freie Kulturszene nicht aussterben, und auch das Hildesheimer Modell wird fortgeführt werden.“

Doch die Betroffenen haben das Vertrauen in die Landesregierung verloren: Anfang 2003 hatte Thomas Oppermann, damals noch Kulturminister von SPD-Gnaden, für dringende Sanierungsarbeiten am Haupthaus des Hildesheimer Stadttheaters 1,6 Millionen Euro schriftlich zugesagt.

In diesem Sommer – die Arbeiten hatten schon begonnen – zog die CDU-Landesregierung die Zusage zurück. Die Nachricht kam während der Sommerpause mit der Post. Wer die Sanierung nun bezahlen soll, ist unklar, zu Ende geführt werden müsse sie, sagt Bircher. „Sonst müssten wir bei den beteiligten Firmen vertragsbrüchig werden.“

Dass die Landesregierung Geldprobleme habe und etwas unternehmen müsse, könne er gut verstehen, sagt Bircher. Doch dass eine schriftliche Zusage nichts gelte und dass das Stadttheater nicht zum Gespräch geladen worden sei, empfinde er als „Missachtung unserer Arbeit und unserer Personen.“ Zudem habe Stratmann noch im Frühjahr versprochen, in diesem Jahr werde nur bei den Staatstheatern gespart.

Für die Zukunft sehen Bircher und Jäckle schwarz. Zu deutlich zeichne sich die Linie der Landesregierung ab: Erst werde bei den Staatstheatern gekürzt, nun die freie Szene gekappt – damit man dann erneut den Landes- und Stadttheatern auf den Pelz rücken könne? Für Bircher jedenfalls ist die Grenze erreicht. Sein Theater habe gespart, wo es nur möglich gewesen sei. Jede weitere Kürzung müsse das Ende des Drei-Sparten-Hauses bedeuten. „Dabei helfe ich nicht mit“, sagt Bircher. „Ich mache jetzt Opposition. Wir versuchen, den Widerstand in der Bürgerschaft aufzubauen.“ Ralf Neite